Ingolf U. Dalferth – Radikale Theologie

Ganz ehrlich: Man muss sich ein wenig durchboxen und ziemlich genau aufpassen, die wesentlichen Stellen neben den zwar interessanten, aber auch sehr ausladenden Darstellungen z. B. um Barth und Bultmann herum nicht zu überlesen. Dazu Dalferths sowieso schon nicht einfacher Stil. Muss man wollen. Aber wenn man will, dann bekommt man eine schöne hermeneutische Grundlegung geboten. Ein prägnanter Gedanke hat mich angesteckt: Der Unterschied zwischen Glauben und Nichtglauben ist nicht das, was geschieht (die Phänomene, Erscheinungen), sondern die Art und Weise, wie wir es deuten (so nach meinem Verständnis und in meinen Worten …).

Nehmen wir zum Beispiel an, es sind um den Sommerbeginn draußen 20 Grad. Man wird nun beobachten können, wie einige noch immer ihre Winterjacken tragen, andere bereits in T-Shirt und Flip-Flops den kürzesten Weg zur Eisdiele suchen. Für die einen ist schon Sommer, für die anderen endet gerade der Winter. Aber die Umstände sind dieselben. Es bleiben trotz unterschiedlicher Wahrnehmung immer noch 20 Grad. Die kann man messen. Was man (und da belehre man mich notfalls eines besseren!) nicht messen kann, ist: Wie warm ist mir? T-Shirt oder Winterjacke? Das entscheidet sich daran, wie ich das Wetter deute – als Sommeranfang oder Winterende.

So ist das mit der Wahrnehmung unserer Wirklichkeit. Und das ist der Hauptdenkanstoß (nicht unbedingt auch die Hauptaussage), den ich aus dem Buch mitgenommen habe und hier zum Weiterdenken weitergeben möchte: Muss das, was wir Christen als „Handeln Gottes“ deuten, tatsächlich von dem unterschieden werden, was messbar passiert? Geht eine Sonnenblume auf, weil Gott sie öffnet oder ist das vielleicht „nur“ ((Das Wörtchen „nur“ soll es keinesfalls abwerten, sondern dient an dieser Stelle lediglich der Differenzierung.)) unsere Beschreibung dessen, was dabei an biologisch beschreibbaren Prozessen abläuft? Weil ich Gott als Schöpfer bezeuge, hat das natürlich auch Konsequenzen für alles, was in der Welt passiert – weil ich es auf Gott zurückführe. Ich habe als Theologe recht wenig Ahnung von Biologie, Chemie, Physik, … aber was ich kann, ist daran festzuhalten, dass der ganze κόσμος (gr. [kósmos]: Welt, Schmuck) Schöpfung Gottes ist.

Ist es tatsächlich nötig, Wissenschaft und Religion gegeneinander auszuspielen? Oder ist es nicht vielmehr eine Grenzüberschreitung der Theologie (in einem ganz weiten Sinne von allgemeinem Reden von Gott), wenn sie der Naturwissenschaft unterstellt, diese würde die Welt dann doch nicht verstehen. Ebenso ist es aber auch Grenzüberschreitung der Nicht-Theologie, Aussagen über Gott zu machen. Ein Beispiel – und ich bin mir bewusst, dass damit viele Emotionen verbunden sind – deswegen formuliere ich zunächst vorsichtig als Frage: Ist es Aufgabe der Theologie (auch hier im weiten Sinn), eine Evolutionstheorie zu widerlegen? Oder ist es nicht vielmehr die Aufgabe, sich Gedanken zu machen, was es bedeutet, also auch welche Konsequenzen daraus folgen, dass der Kosmos Schöpfung Gottes ist.

Daher meine These für heute: Die Naturwissenschaft hat die Aufgabe und Kompetenz, die Welt zu untersuchen. Die Theologie hat die Aufgabe und Kompetenz, die Welt zu deuten.

Wir reden doch alle über dieselbe Welt. Daran ändert sich auch nichts, nur weil die einen untersuchen, wie sie funktioniert – die anderen sie interpretieren. Radikal an der Theologie ist dann, sich radikal an diese Aufgabe zu halten. Und radikal dafür einzutreten, dass die Welt Gottes Schöpfung ist. Dass die Welt nicht in wissenschaftlicher Erkenntnis aufgeht. Sie ist mehr als naturwissenschaftlich Darstellbares: Sie ist Schöpfung. Aber gerade das widerspricht nicht naturwissenschaftlichen Aussagen (z. B. wenn es um Evolution geht), sondern weist darauf hin, dass da noch mehr ist. Nicht etwas anderes. Mehr.

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