Exegetische Predigtnotizen #9: 1Joh 5,1–4

Der Text für den dritten Sonntag nach Ostern (Jubilate, 17. April 2016) kommt aus dem ersten Johannesbrief. Die im Testlauf befindliche Perikopenrevision schlägt stattdessen 2Kor 4,14–18 vor, ich werde aber für meine Predigt an diesem Tag den bisherigen Vorschlag aufgreifen. Der Text ist typisch „johanneisch“ verschachtelt – ich versuche dem mit ein paar Notizen beizukommen und freue mich wie immer über sachkritische Kommentare.

1        Übersetzung

1 Πᾶς ὁ πιστεύων
ὅτι Ἰησοῦς ἐστιν ὁ Χριστὸς,
ἐκ τοῦ θεοῦ γεγέννηται,
καὶ πᾶς ὁ ἀγαπῶν
τὸν γεννήσαντα
ἀγαπᾷ [καὶ] τὸν γεγεννημένον ἐξ αὐτοῦ.
Jeder [Mensch], der glaubt,
dass Jesus der Christus ist,
ist aus Gott hevorgegangen.
Und jeder [Mensch], der den liebt,
der [sie*ihn] hervorgebracht hat,
liebt auch den [Menschen], der aus ihm hervorgegangen ist.
2 ἐν τούτῳ γινώσκομεν
ὅτι ἀγαπῶμεν τὰ τέκνα τοῦ θεοῦ,
ὅταν τὸν θεὸν ἀγαπῶμεν
καὶ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ ποιῶμεν.
Daran erkennen wir,
dass wir die Kinder Gottes lieben,
wenn wir Gott lieben
und nach seinen Weisungen handeln.
3 αὕτη γάρ ἐστιν ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ,
ἵνα τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ τηρῶμεν,
καὶ αἱ ἐντολαὶ αὐτοῦ βαρεῖαι οὐκ εἰσίν.
Denn darin besteht die Liebe Gottes,
dass wir seine Weisungen bewahren
– seine Weisungen sind nicht schwer!
4 ὅτι πᾶν τὸ γεγεννημένον ἐκ τοῦ θεοῦ
νικᾷ τὸν κόσμον·
καὶ αὕτη ἐστὶν ἡ νίκη
ἡ νικήσασα τὸν κόσμον,
ἡ πίστις ἡμῶν.
Denn: Alles, was aus Gott hervorgegangen ist,
überwindet die Welt.
Und das ist der Sieg,
der die Welt überwunden hat:
Unser Glaube.

 

 

2        Allgemeines zum 1. Johannesbrief

Schon der Name des Buches irritiert, denn ein klassischer Brief ist das Werk nicht. Er hat briefartigen Charakter, aber wichtige Elemente fehlen zugleich, etwa die Absenderangabe (vgl. dagegen 2Joh 1,1 oder 3Joh 1,1). Udo Schnelle geht davon aus, dass der 1Joh, der 2/3Joh und das Joh je andere Verfasser haben. Er geht davon aus, dass die Schriften der sogenannten johanneischen Schule in der Reihenfolge 2/3Joh » 1Joh » Joh entstanden sind und datiert den 1Joh auf etwa 95 n. Chr.

Der 1Joh zeigt schon in der Einleitung (1Joh 1,1) durch die Verben relativ deutlich an, wogegen er sich richtet, nämlich dagegen, einen göttlichen Christus und einen menschlichen Jesus so voneinander zu trennen, dass die menschliche Seite für die Theologie keine Rolle mehr spielt. Man nennt diese Lehre Doketismus, nach der Christus nur „zum Schein“ (gr. δοκεῖν dokein) körperlich gelebt und gelitten habe (vgl. 1Joh 4,2f).

Es wird diskutiert, ob der Schluss in 1Joh 5,14–21 ursprünglich zum Brief gehörte. Das muss hier nicht ausführlich diskutiert werden. Das hier neu auftretende Thema des Gebets und die m. E. anders gelagerte Hamartiologie (Sündenlehre) scheint mir aber inhaltlich doch relativ weit vom Rest entfernt, sodass ich es für durchaus möglich halte, den ursprünglichen Abschluss in V. 13 zu sehen.

3        Kontext

Unserer Perikope voraus geht eine ausführlichere Behandlung des Themas der Geschwisterliebe in 1Joh 4,7–21 und der Liebe als Zeichen des Göttlichen überhaupt (1Joh 4,8.16: ὁ θεὸς ἀγάπη ἐστίν Gott ist Liebe). Das Thema der Gotteskindschaft aus 1Joh 3 wird erneut in 1Joh 5,1–4 aufgenommen. War es dort viel mehr feststellend (indikativisch) formuliert, überwiegt in 1Joh 5,1–4 ein auffordernder (imperativischer) Ton.

Es folgt ein etwas merkwürdig anmutender Gedankengang über Wasser, Blut und Geist, der eine eigene Behandlung erfordern würde; es handelt sich wohl wieder um eine Abwehr gegen die doketischen Lehren (s.o.). Der Brief schließt mit einer christologischen Bestätigung, dass in Jesus Christus Gott selbst zum Heil der Menschen handelt.

4        Beobachtungen

4.1      V. 1: Geschwisterliebe

Formuliert ist zwar rein maskulin, zu übersetzen ist aber selbstverständlich inklusiv. V. 1a ist die positive Kehrseite von 1Joh 2,22f. Der Vers ist in zwei parallelen Teilen aufgebaut, sodass Glaube und Liebe schon formal-literarisch einander zugehören: „Wer glaubt … wer liebt …“.[1]

Der erste Teil enthält das Grundbekenntnis der johanneischen Schule, nämlich der Glaube daran, dass der Mensch Jesus identisch ist mit dem himmlischen Christus.[2] Zugleich wird deutlich, dass dieser Glaube keine Leistung oder Möglichkeit des Menschen ist, sondern von Gott hervorgebracht wird. Damit bietet der erste Halbvers eine christliche Glaubenstheorie in nuce: Der Glaube an Jesus als Christus ist allein Gottes Werk. Man darf den Vers m. E. nicht schöpfungstheologisch lesen – der christliche Glaube ändert nichts daran, ob ein Mensch per se Gottes Geschöpf ist (das ist er!), sondern im Blick ist hier der Mensch als Glaubende*r bzw. der Glaube selbst.

Der ganze Vers nutzt eine Verwandtschaftsmetapher. Der mit hervorbringen übersetzt Begriff meint eigentlich zeugen, gebären,[3] und bezeichnet so eine Gotteskindschaft. Der zweite Teil zieht daraus die Konsequenz, dass 1) alle Glaubenden als von Gott Geborene/Gezeugte Geschwister sind und 2) folgt aus der Liebe zu den Eltern die Geschwisterliebe.[4]

4.2      V. 2: Gottesliebe

V. 2 kehrt die Logik von 1Joh 4,20 um. Dort war es die Geschwisterliebe, die Auskunft über die Gottesliebe gibt – hier ist es nun die Gottesliebe, die anzeigt, ob jemand die „Kinder Gottes“ liebt. Der sich ergebende Zirkelschluss muss keine mangelhafte Argumentation bedeuten (was aber rein logisch der Fall wäre), sondern ist von der Sache selbst her bedingt: Gottesliebe und Geschwisterliebe lassen sich sachlich nicht voneinander trennen. Es handelt sich dabei um zwei Perspektiven auf denselben Vorgang. Mit anderen Worten: bloße Gottesliebe bleibt abstrakt, bloße Geschwisterliebe natürliche Selbstverständlichkeit oder blinder Aktionismus. Es geht darum, das eine als das andere zu deuten und zu erkennen.

Die Geschwisterliebe zeigt sich also in der Liebe zu Gott, die wiederum durch die Gebote inhaltlich bestimmt wird. Was damit geboten ist, wird an zwei anderen Stellen (1Joh 3,23; 4,21) gesagt: die Geschwister lieben. Selbst die Näherbestimmung durch das Gebot bleibt innerhalb der Kreisbewegung aus Gottes- und Geschwisterliebe – meines Erachtens ein weiterer Hinweis darauf, beides zwar differenziert, aber aufs allerengste verbunden oder gar sachlich identisch zu denken.[5]

Die logische Spannung ließe sich nur auflösen, wenn mit den Geboten etwas anderes gemeint wäre als die Geschwisterliebe – dazu gibt das 1Joh aber keinerlei Anlass. Man muss daher mit der Tautologie leben: wir erkennen, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir (Gott und) die Kinder Gottes lieben.

4.3      V. 3: Liebe Gottes

Dass „Gott und“ gerade in Klammern stand, hängt mit V. 3 zusammen, denn die Gottesliebe erweist sich in der Bewahrung der Gebote, was wiederum (s.o.) die Geschwisterliebe meint. Der Genitiv „Liebe Gottes“ kann als „Liebe von …“ (genitivus subiectivus) und als „Liebe zu … “ (genitivus obiectivus) verstanden werden. Sprachlich ist vermutlich letzteres gemeint – sachlich schwingt die Liebe, die Gott selbst aufbringt von V. 1 her aber unbedingt mit, weil Gott als Urheber derer verstanden wird, die hier angesprochen und zur Liebe aufgerufen sind. Dass Gottes Weisungen nicht schwer sind erinnert an Dtn 30,11. Die Begründung dafür liefert V. 4.

4.4      V. 4: Weltsieg

Die neutrale statt personale Formulierung (alles statt alle) betont den grundsätzlichen Charakter der Aussage. Mit „Welt“ dürfte von diesem Vers her all das gemeint sein, was eben nicht aus Gott hervorgegangen ist, alles also, was nicht der Gottes- als Geschwisterliebe entspricht. 1Joh 2,16 etwa beschreibt Verlangen und Begierde (ἐπιθυμία) – egoistische oder zumindest auf das eigene Selbst gerichtete Emotionen – als Kennzeichen der Welt.

Das Bild vom „Sieg“ (νίκη níkē) drückt eine Überlegenheit aus, jedoch ist es aus meiner Sicht angebracht, den Vers zurückhaltend zu lesen: Nicht triumphalistisch, als sei alles gut und die Gläubigen der Welt überlegen. Vielmehr erscheint es mir sehr angebracht, den Vers im Sinne einer Hoffnung und einem tiefen Vertrauen in die Kraft der Gottesliebe (s. o.) zu lesen. Ich verstehe den Sieg dann als einen zweifachen Übergang vom Hass zur Liebe – einen bereits erfahrenen und einen zukünftig erhofften. Dem entspricht die sprachzeitliche Struktur des Verses: das erste Verb siegen (νικάω nikáo) steht im Präsens und kann eine futurische, ins Zukünftige weisende Tendenz mitbringen. Das zweite Verb weist als Aorist in die Vergangenheit, und zwar punktuell, d. h. übertragen: auf eine konkrete Erfahrung.

Das bedeutet also: Im Glauben erweist sich die in der Geschwisterliebe sich ereignende Gottesliebe als die egoistischen Weltkräfte überwindend. Der Sieg ist keine Rechthaberei um die richtige Religion oder richtige Dogmatik. Es ist (das Vertrauen auf den) Sieg der Liebe, die sich als etwas Größeres erweist, als etwas, das über alle sonstigen Werte und Kräfte der Welt ihr zugute kommt. Diese Liebe gewinnt nicht zufällig oder glücklich, sondern weil sie die Kraft dazu hat. Der Glaube, der sich auf diese Liebe verlässt und sie zu leben sucht, hat deshalb Anteil an diesem Sieg.

5        Literatur

Bauernfeind, Art. νικάω, in: Gerhard Kittel (Hg.), ThWNT IV, 941–945. (Amazon.de)

Hans-Josef Klauck, Der erste Johannesbrief (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament EKK), Neukirchen 1994, 283–291. (Amazon.de)

Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 82013, 513–522.535–549. (Amazon.de)

Udo Schnelle, Die Johannesbriefe (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament ThHK), Leipzig 2010, 159–167. (Amazon.de)

Gottfried Voigt, Das heilige Volk: homiletische Auslegung der Predigttexte der Reihe II, Berlin 21985, 234–240. (Amazon.de)

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Schnelle, ThHK, 160.

[2] Vgl. ebd.

[3] Beide Übersetzungen sind sprachlich angemessen. Ich habe die neutrale Variante gewählt, um eine (übliche!?) geschlechtliche Festlegung Gottes zu vermeiden.

[4] Einen interessanten weiteren antiken Beleg (allerdings in umgekehrter Logik) für dieses Ideal bei Plutarch führt Klauck, EKK, 285 an: „Bruderliebe [ist] von der Art, daß einen Bruder zu lieben zugleich auch einen Beweis abgibt für die Liebe zu Mutter und Vater“.

[5] Vgl. Schnelle, ThHK, 161.

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