saat aber satt?

saat aber satt?
Jesaja 58,6b–12

– Einstieg –

Seit einigen Jahren gibt es einen Trend. Es scheint ganz wichtig geworden zu sein, dass man deutschen Städten einen Slogan verpasst. Kennt ihr solche Slogans? Eine kleine Auswahl: „Mannheim. Leben im Quadrat“. Als bekennender Fan des SV Werder Bremen ein No-go. Nur in einer möglichst grünen Raute möchte ich leben! Ich könnte niemals nach Mannheim in ein Quadrat ziehen. Witzig auch: „Erfurt – Rendezvous in der Mitte Deutschlands“. Klar, Erfurt ist schön! Aber was sage ich  meiner Frau, wenn ich nach Erfurt fahre. Du Schatz ich geh heute fremd, ich habe ein Rendezvous … mit Erfurt. Oder „Neuss – die soziale Großstadt“. Keine Ahnung ob der Slogan wirklich Programm ist, aber hier hätte ich eine bessere Idee: „Neuss – nix Neues!“ Für Bielefeld hätte ich auch einen guten Slogan: „Bielefeld – das gibt’s doch gar nicht“. Oder einen noch für die Stadt Essen: „Essen – ist fertig“. Soweit mal. Meine Frage: Kennt ihr den Göttinger Stadtslogan? „Göttingen – Stadt die Wissen schafft“.

Ich habe mir Gedanken gemacht, was das eigentlich über die Menschen in Göttingen aussagen soll. Es ist ein sehr herausfordernder Slogan. Ein Slogan, der das Leben in Göttingen von einer bestimmten Seite anschaut: ökonomisch. Man könnte den Slogan dann eher kritisch verstehen. In Göttingen bist du nur was, wenn du was leistest –wenn du was schaffst– vorzugsweise akademisch. Warum nur diese Fokussierung auf Leistung? Wirklich einladend ist das nicht. Aber klar, der Slogan passt schon in unsere Zeit. In die Zeit der Leistungsgesellschaft. Egal welche Lebenswelt man sich anschaut, man wird das Gefühl nicht los, dass wir uns trotz unseres Wohlstands in der Sucht nach Leistung verrennen. Und der Göttinger Stadtslogan unterstützt das noch. Immer mehr wollen, ohne Rücksicht auf Verluste. Unsere Gesellschaft, also in der Berufswelt, Familienwelt und häufig auch in der religiösen Welt rennt so schnell und wir alle rennen irgendwie mit, obwohl vielen von uns die Kraft ausgeht. Trotzdem, wir wollen immer höher hinaus, immer weiter, immer schneller. Das fatale aus meiner Sicht dabei ist, dass eine fundamentale Eigenschaft des Menschseins verloren geht: Die Dankbarkeit! Mit dem status quo ist mal schließlich selten zufrieden. Wofür und wozu also danken – man muss doch erst den nächsten Stepp erreicht haben, dann vielleicht könnte man sowas wie Dankbarkeit mal andenken. Aber dann liegt der nächste Stepp ja auch schon wieder vor uns.

– Erntedank? –

Heute ist Erntedankfest. Und man fragt sich schon, wie dieses Fest noch in die heutige Gesellschaft passt. Häufig lässt unserer Leben eben wenig Dankbarkeit zu. Daher haben wir in der Gemeinde mal ein Experiment gemacht. Am vergangenen Donnerstag wurden wir beim Abendmahl dazu eingeladen, sich Erbsen in die eine Seite der Hosentasche zu stecken, um bei jeder dankbaren Situation im Alltag eine Erbse in die andere Hosentasche zu wechseln. Eine Frage an die, die mitgemacht haben: Hat es geklappt? Hat jemand alle Erbsen in die andere Hosentasche wechseln können? Ich bin der Überzeugung, dass Experimente wie diese es erreichen können uns bewusst zu machen, wie dankbar wir hier in Deutschland sein dürfen. Wir haben viel gutbezahlte Arbeit, Kindergärten und Schulen, Essen ohne Ende, Sozialsysteme, können uns Versicherungen leisten, haben eine top medizinische Versorgung und vieles mehr. Und trotzdem fällt uns eine dankbare Haltung oft schwer. Ich glaube es gibt einen Grund dafür. Die zentrale Frage ist nämlich nicht, was du alles besitzt, was du von Gott an Gaben bekommen hast! Die Frage ist eine andere: Bist du trotz reicher Ernte satt? Saat haben wir reichlich ja, aber sind wir satt? saat aber satt? Das ist die Frage! Es scheint so unlogisch. Wir haben so viel und trotzdem hungern wir. So ist alles was Gott uns gibt sinnlos. Denn was macht es für einen Sinn, wenn wir viel haben – aber trotzdem unglücklich sind? Kann man so, hungrig nach sinnvollem Leben, verantwortlich Erntedank feiern?

– Auslegung Jesaja 58,6b–12

In einer vergleichbaren Situation, wenn auch in völlig anderem Kontext und längst vergangenen Zeit, befand sich auch das Volk Israel. Das Volk Israel war nach Babylon verschleppt worden. Also das Volk Israel gab es noch, aber sie hatten kein eigenes Land. Keine eigene Ernte. Keine Gaben Gottes. Etwa 60 Jahre lebte Israel in dieser babylonischen Gefangenschaft, ehe Kyros II. das babylonische Reich eroberte und daraufhin das Volk Israel die Rückkehr in ihr gelobtes Land gestattete. Das war im Jahr 536 v. Chr. Doch dort angekommen war es gar nicht einfach mit dem neu alten Land umzugehen. Das Volk hatte alle Möglichkeiten, dass es ihnen gut gehen sollte, aber trotzdem war es anders. Missstände taten sich auf und obwohl genug zur Sättigung aller da war, gab es viele geistlich und körperlich Hungernde. Zu dieser Zeit entsteht ein mahnender Text eines Propheten, der sich mit folgenden Worten an das Volk Israel wendet. Diese Worte lesen wir in Jesaja 58,6b–12:

6b Löst die Fesseln der Gefangenen, nehmt das drückende Joch von ihrem Hals, gebt den Misshandelten die Freiheit und macht jeder Unterdrückung ein Ende! 7 Ladet die Hungernden an euren Tisch, nehmt die Obdachlosen in euer Haus auf, gebt denen, die in Lumpen herumlaufen, etwas zum Anziehen und helft allen in eurem Volk, die Hilfe brauchen! 8 Dann strahlt euer Glück auf wie die Sonne am Morgen und eure Wunden heilen schnell; eure guten Taten gehen euch voran und meine Herrlichkeit folgt euch als starker Schutz. 9 Dann werdet ihr zu mir rufen und ich werde euch antworten; wenn ihr um Hilfe schreit, werde ich sagen: ›Hier bin ich!‹ Wenn ihr aufhört, andere zu unterdrücken, mit dem Finger spöttisch auf sie zu zeigen und schlecht über sie zu reden, 10 wenn ihr den Hungernden zu essen gebt und euch den Notleidenden zuwendet, dann wird eure Dunkelheit hell werden, rings um euch her wird das Licht strahlen wie am Mittag. 11 Ich, der Herr, werde euch immer und überall führen, auch im dürren Land werde ich euch satt machen und euch meine Kraft geben. Ihr werdet wie ein Garten sein, der immer genug Wasser hat, und wie eine Quelle, die niemals versiegt. 12 Was seit langer Zeit in Trümmern liegt, werdet ihr wieder aufbauen; auf den alten Fundamenten werdet ihr alles von neuem errichten. Man wird euch das Volk nennen, das die Lücken in den Stadtmauern schließt und die Stadt wieder bewohnbar macht.«

Ein langer Text. Ich denke es macht deshalb Sinn, sich zunächst einen Überblick zu verschaffen. Im Grunde ist der Text sehr klar und einfach gegliedert. Da sind zunächst die ersten Aufforderungen in den Versen 6b-8b. Der Prophet mahnt und ruft dazu auf, Gefangene zu befreien, Freiheit für die Unterdrückten herzustellen, Hungernde an den eigenen Tisch zu nehmen, Obdachlosen ein Dach über den Kopf und Frierenden Kleidung zu geben. Diese Aufforderungen gipfeln in der einfachen wie klaren Mahnung zur Hilfe für alle Menschen des Volkes. Oder wörtlich, vom hebräischen her, sagt der Prophet: „Helft eurem Fleisch“ und meint damit hilf deines Gleichen: „helft den Menschen“! In den Versen 8-9b folgt dann eine Verheißung, die aber an die Bedingung geknüpft ist, die eben genannten Aufforderungen zu erfüllen. Denn dann wird der Mensch glücklich sein. Wunden, die das alte Leben hinterlassen hat, werden heil und Gott wird da sein. Die größte Zusage, die ein Prophet aussprechen kann: Gott ist da! Es folgen nochmals Aufforderungen. Nun wird es persönlicher und diese Mahnungen wurden wohl zu allen Zeiten der Weltgeschichte ausgesprochen. Hört auf über andere schlecht zu reden. Vergleicht euch nicht und haltet euch nicht für was Besseres, sondern wendet euch den Hilfsbedürftigen zu. Denn ehe du dich versiehst, bist du auch auf Hilfe angewiesen. Daraufhin folgte wieder eine Verheißung, die wieder an die Aufforderungen geknüpft ist. Wenn ihr über andere nicht schlecht redet, sondern euch um sie kümmert, dann wird Licht statt Dunkelheit in euer Leben kommen. Und Gott wird euch dafür Lebenskraft geben. Der letzte Vers  ist dann eine abschließende visionäre Motivation, darauf gehe ich gleich noch ein.

Obwohl dieser Text auch in diesen Worten gut verständlich ist, möchte ich den Text in unsere Zeit übersetzten. Dieser Text ist einseitig und diese Mahnungen können wie ein Tinnitus im Ohr nerven, so wie meine vorherige Gesellschaftskritik einseitig war, weil das Leben eigentlich nicht ganz so schwarz/weiß ist. Und trotzdem. Christsein hat mit dem Leben zu tun. Denn Christsein leitet an zu einem sinnvollen Leben. Christsein denkt aber niemals in den Kategorien höher, besser und schneller. Sondern Christsein bedeutet, das Leben aus der Perspektive des Evangeliums zu gestalten und das heißt, für die Gerechtigkeit Gottes hier in dieser Welt einzustehen. Christsein bedeutet im Reich Gottes und für das Reich Gottes zu leben. Und dabei gilt eine Faustformel: Ich kann nicht Gott lieben und dabei das verachten, was er liebt: Meine Mitmenschen. Gott will eine gerechte Welt – will Menschen befreien, Unterdrückung beenden, misshandelte und ausgegrenzte Menschen im Zentrum. Das ist das Evangelium und darum geht es auch in diesem Jesajatext. Das Herausfordernde daran ist, dass der Mensch, also du und ich, nach diesem Text ganz viel damit zu tun hat und es nicht Gott allein überlassen ist, aus dieser Welt eine gerechtere Welt zu machen. Das klingt fast wie eine Zumutung. Doch der Prophet nimmt die Menschheit, nimmt dich und mich in die Pflicht. Wir sollen Verantwortung für diese Welt übernehmen. Die Verantwortung annehmen, die Gott uns von Anfang an zugedacht hat. So verstehe ich den Schöpfungsbericht, wenn Gott sagt: „Nimmt die Erde in Besitz“ (Gen 1,28). Und in dieser Pflicht eines Besitzers liegt ein unglaublicher Segen. Denn da wo Gott uns dazu gebraucht, diese Welt zu einer gerechteren Welt zu machen; Wo wir erleben dürfen, wie Menschen befreit werden, Ausgegrenzte in die Mitte genommen werden, da wird sich Dankbarkeit in unserem Leben ausbreiten – da sind wir am Ziel – da werden wir innerlich satt! Da macht Erntedankfest Sinn. Doch wie kann das gelingen? Wo um alles in der Welt, kann ich in meinem täglichen Leben für soziale, also göttliche Gerechtigkeit einstehen und Verantwortung übernehmen? Wie kann ich meinem Fleisch, also der Menschheit helfen? Wo kann ich Menschlichkeit zeigen?

– Menschlichkeit –

Die Frage ist doch: Ist das nicht eine Nummer zu groß – reicht es denn nicht, wenn ich in der Gemeinde ein bisschen mitarbeite? Muss ich denn gleich die ganze Welt retten? Diese Gedanken sind berechtigt. Wenn es darum ginge, dann würden manche Lifestyle-Magazine an dieser Stelle eine akute Burn-Out-Warnung herausgeben. Der Titel des Heftes: „Typisch Weltretter: Helfersfrust statt Lebenslust“. Auf der Titelseite des Magazins wäre dann Jesus zu sehen. Der schwerste Fall von Helfersucht in der Geschichte. Wenn das der Maßstab ist, dann ist Jesaja 58 und sind diese Mahnungen gesundheitsgefährdend. Dann entwickeln sich christliche Gemeinden zu potenziellen Therapiegruppen von lauter Ausgebrannten und depressiven Helferjunkies.

Das will der Prophet jener Zeit und auch der Text für uns heute natürlich nicht bezwecken! Wir müssen genau hinschauen. Denn da heißt es: Brich dem Hungrigen dein Brot. Das heißt nicht: Besiege den Hunger auf der Welt. Da steht nicht „backe bis zum Umfallen Brot für alle Hungrigen der Welt und esse selbst nichts davon“. Aber vielleicht kann ich an meinen Mittagstisch, der doch so reichhaltig gedeckt ist, jemanden einladen, der einsam ist. Jemanden einladen, dem es nicht gut geht. Ihm ein Licht sein. Denn so breitet sich das Evangelium aus – das ist Nachfolge oder Abbild Jesu. Oder im Text heißt es: Wenn, also wenn du einen in Lumpen siehst, dann kleide ihn. Heißt nicht, spende deine ganze Kleidung und alles was du hast. Aber vielleicht ist da jemand, den du kennst. Jemand der ausgegrenzt wird – nackt ist. Vielleicht kannst du ihm liebevoll begegnen, ihn oder sie umarmen und so ins Zentrum stellen, ihm oder ihr die Liebe Gottes zusprechen. Das ist Evangelium Jesu Christi. Es geht zunächst um eine Andere und nicht um die ganze Welt. Der Prophet bleibt mit seinen Aufforderungen im Bereich des Möglichen, des Zumutbaren, vor dem niemand sich verstecken braucht. Es wird nichts Übermenschliches verlangt, sondern das Menschliche. Es geht nicht um Selbstaufopferung und Lebenshingabe, es geht um Menschlichkeit.

Und oft ist diese Menschlichkeit noch viel einfacher zu leben als wir es uns denken. In Zeiten der Globalisierung gehört es auch dazu, dass wir da menschlich sein können und somit Licht in dieser Welt sind, wo wir einen Menschen gar nicht unmittelbar vor uns haben. Aber ich denke es ist ganz passend zum Erntedankfest mal anzusprechen, wie viel Einfluss wir in dieser Welt zum Guten nehmen können, wenn wir bewusster einkaufen. Denn hinter jedem Einkauf stehen Menschen, die an diesem Einkauf verdienen. Ich mache uns Mut, diese Frage bei jedem Einkauf der nächsten Woche mal zu stellen. Wer verdient eigentlich mit meinem Einkauf? Verdienen die meinen Einkauf, die die Maxime höher, schneller und besser vertreten und keine Rücksicht auf Mensch und Welt nehmen. Oder wäre es nicht im Sinne christlicher Menschlichkeit, die an meinen Einkäufen verdienen zu lassen, die ebenso wie ich für eine gerechte Welt einstehen. Faire Löhne zahlen, Rücksicht nehmen auf unsere Umwelt, usw. Macht es nicht wirklich Sinn, mehr zu bezahlen, weniger zu haben und damit wirklich Gutes zu tun. Macht es uns am Ende nicht glücklicher und dankbarer zu sehen, dass wir selbst bei einem Einkauf Gutes tun können? Ihr seht. Dieser Text hat etwas mit unser Zeit zu tun. Der Text appelliert an unsere Menschlichkeit und an unsere Verantwortung für Gottes Welt.

– Vision –

Aber der Text bleibt hier nicht stehen. Er gibt uns eine Vision, eine Perspektive auf unser Leben, dass sich ganz der Menschlichkeit verschreibt. Ihr werdet satt! Der Prophet gebraucht wunderschöne Bilder dafür: Das Glück strahlt auf, Wunden werden heil, Gott ist da! Der abschließende Vers 12 fasst wunderbar zusammen:

Was seit langer Zeit in Trümmern liegt, werdet ihr wieder aufbauen; auf den alten Fundamenten werdet ihr alles von neuem errichten.
Man wird euch das Volk nennen, das die Lücken in den Stadtmauern schließt und die Stadt wieder bewohnbar macht.

Welch eine Zusage. Wenn wir Verantwortung übernehmen und Menschlichkeit in diese Welt tragen, dann sind wir so etwas wie der Lehm, der die schmerzenden Lücken zwischen Menschen schließt. Wir bringen Menschen zueinander. Wir machen die Welt schön, oder auch hier kleiner gedacht, verschönern diese Stadt, mit Menschlichkeit! So bauen wir mit am Reich Gottes, weil Gott es uns zutraut, weil er uns genau dazu gebraucht. Vielleicht können wir für unsere Stadt dann bald einen neuen Slogan ins Gespräch bringen.

Göttingen – göttlich leben.

Das ist auch herausfordernd. Denn göttlich leben heißt zuerst den anderen Menschen zu sehen. Das zu lieben, was Gott liebt. Aber darin steckt eine großartige Perspektive: Wir dürfen sehen, wie wir zum Segen für andere Menschen werden. Das macht uns dankbar. So lässt sich Erntedankfest feiern. Amen.

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