Die folgende Predigt wurde in der Martinikirche Siegen im Rahmen des »Predigtsommer in Martini« am 30. Juli 2017 gehalten. Die Gottesdienstreihe stellte die Figur des Petrus in den Mittelpunkt.
Gnade sei mit Euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und der da kommt. Apk 1,4
Wir hören auf den Text aus Matthäus 14,22–33:
22 Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein.
24 Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. 26 Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.
27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!
28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: (liebevoll) Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich.
33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
Etwa 80 Stundenkilometer. Das wäre – überaus simpel betrachtet – die Antwort auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Erzählung. 80 km/h – ich gebe zu, für diese Antwort lohnt sich kein Kirchgang. Die klingt etwa wie Douglas Adams’ „42“ auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie hat aber tatsächlich etwas mehr Gehalt: denn etwa 80 km/h hätte Petrus laufen müssen, um den See zu überwinden – plusminus, je nach Körperfülle – Seegang nicht eingerechnet.
Spaß beiseite: Auf diese Weise werden wir mit unserem Text natürlich nicht glücklich. Uns interessieren nicht die athletischen Fähigkeiten von Petrus oder Jesus, sondern uns interessiert das echte Leben – unser Leben. Wie ist der Mensch Petrus in diese monströse Geschichte verwickelt – und wie könnten wir uns in sie hineinziehen lassen? Vielleicht helfen fünf Worte, mit denen ich diese Petrusgeschichte beschreiben möchte: weggescheucht, befremdet, realistisch, mutig, aufgehoben.
(1) weggescheucht
Die erste Szene überliest man leicht, dabei finde ich schon sie auf etwas merkwürdige Art ganz heilsam. Petrus, die Gallionsfigur neutestamentlichen Glaubens, wird von der Bühne weggescheucht: Als einer aus dem Kreis der Schüler/innen wird er vom Lehrer weggeschickt, weggedrängt sogar.
In meinem Kopf sieht das Verschwinden der Schüler/innen aus, wie wenn ein Vorhang sich öffnet und den Blick freigibt auf ein eigentliches Geschehen: Jesus und „das Volk“. Doppelt wird betont, dass sich Jesus von denen verabschiedet, die zwar nicht zum inneren Zirkel gehören, aber doch offenbar an ihm interessiert waren. Die fasziniert waren von seinem charismatischen Auftreten. Die satt wurden von den gehaltvollen Worten, die er über Gott sagte. Er will sich unbedingt verabschieden, die Nähe noch im Weggehen schenken und genießen. Nähe zu denen, die sonst nicht im Mittelpunkt stehen, deren Namen und Biografien in der großen Masse untergehen. Wenigstens noch verabschieden, den Moment der Aufmerksamkeit so lange es geht nachhallen lassen …
Die Dynamik dieser Szene lässt mich allerdings auch etwas nachdenklich zurück. Denn als heutiger Jesusschüler sehe ich mich weggescheucht. Habe ich womöglich mit Petrus und den anderen im Weg gestanden? Wie ich mich kenne: nicht unwahrscheinlich. Wenn ich befreundete Pastorenkollegen treffe unterhalten wir uns natürlich gern über theologische Fachfragen. Oftmals bemerken wir erst recht spät, dass das niemanden außer uns interessiert und sich alle anderen langweilen. So stelle ich mir das hier vor, auch wenn der Text das natürlich nicht sagt … Ich frage mich, ob uns das nicht als ganzer Kirche manchmal genauso geht. Dass wir als „Fortgeschrittene“ es allen anderen immer mal wieder erschweren, die einfachen Fragen zu stellen und die grundlegenden Antworten zu spüren. Einfach da zu sein, die Nähe mit den Menschen zu genießen anstatt sich im Kleinklein wilder Diskussionen zu verlieren, die ehrlicherweise doch nur wir selbst verstehen.
(2) befremdet
Auf recht dramatische Weise rücken nun die Schüler/innen samt Petrus (als einer von ihnen) wieder in den Fokus. Ohne großes Tam-Tam wird die heftige Notsituation geschildert: Das Schiff, das sich im übertragenen Sinne Gemeinde nennt, wird von Wind und Wellen „gequält“. Von allen Seiten wird es überschwemmt von den Chaosmächten des Lebens. Es droht, inmitten des Gegenwindes der Gesellschaft unterzugehen.
Das ist nun eine sehr verführerische Leerstelle im Text. Denn es ist nicht viel – eigentlich gar nichts – darüber gesagt, was denn diese Bedrohung ausmacht. Zu matthäischen Zeiten dürfte das harte gesellschaftliche Ausgrenzung bis hin zur Verfolgung gewesen sein. Das ist heute bei uns nicht der Fall. Und die Ansichten darüber, was bei uns die christliche Kirche heute bedroht, fallen daher sehr verschieden aus.
Ich denke, sie hängen immer damit zusammen, wie wir denn diese Jesusgestalt interpretieren. Den Christus, der einerseits so unerreichbar weit weg ist, den andererseits aber – dem Bild nach – nicht einmal die Ordnungen der Physik aufhalten können, sich immer wieder dem Gemeindeschiff zu nähern. Diese Unsicherheit kommt einem eben manchmal „gespenstisch“ vor. Er kommt uns so „gespenstisch“ vor mit seiner Lebensweise, die so wenig in ihr Umfeld passt wie Wanderer mitten auf den See. Dieser Jesus bleibt fremd – selbst denen, die sonst ganz vertraut sind. Selbst Petrus. Erst recht mir.
Dieses dennoch so faszinierend Fremde ist für mich der Jesus, der die Fortgeschrittenen wegschickt, um den Zurückgebliebenen nahe zu sein. Das ist der Christus, der das Etablierte unterläuft, um die Menschen mit ihren Schicksalen wahrzunehmen. Es ist das Göttliche, das sichimmer wieder erlaubt auf dem Wasser zu gehen und die üblichen Ordnungen außer Kraft zu setzen, wo die Menschen danach schreien.
Ich gebe zu, das kann verwirren und eine Sehnsucht nach Eindeutigkeit und dem Altbekannten wecken. Denn ja: dieser Jesus als der göttliche Christus wird seine Kirchen immer mal wieder erschrecken. Weil sich auf seinem Lebensweg Pfade auftun, die vorher niemand für möglich gehalten hätte.
Vielleicht führen sie dahin, alte Rollen- und Familienbilder zu überdenken, um den – lange genug auch von uns Kirche – ausgegrenzten Menschen ihr Recht zu ermöglichen. Vielleicht führen sie dahin, einen bisher unbekannten Zugang zu biblischen Texten zu gewinnen, um die lange ersehnte Freiheit zu schmecken. Vielleicht führen sie dahin, dass wir uns Irrtümer eingestehen, damit die Wahrheit der Liebe sich darin bewährt.
Kurz: Manchmal mag es einen Moment dauern, bis wir das Göttliche in den Irrungen und Wirrungen des Lebens erkennen. Manchmal dauert es bis zur vierten Nachtwache bis wir es gemeinsam hören, das „Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!“
Ich finde, Kirchen sollten nicht dafür bekannt sein, hinter jeder neuartigen Erscheinung „Gespenster“ zu vermuten. Denn unsere Erzählung lehrt uns ja: manchmal entpuppen sich solche „Gespenster“ als unser Christus …
(3) realistisch
Als Besonderheit im Matthäusevangelium tritt nun Petrus auf – erst jetzt! Nicht als Fremdkörper in der Geschichte, sondern als einer, der ja die ganze Zeit schon unerwähnt dabei war. Und nicht als Ideal eines Jesusschülers, sondern ganz real und echt – meinem Erleben vertraut.
„Wenn du es bist“, fragt er. Der Brustton der Überzeugung klingt anders, finde ich. So ganz sicher scheint selbst er sich nicht zu sein. Das kommt mir nah, denn: So richtig sicher bin ich mir doch auch oft nicht. Woher will ich es denn so genau wissen? Woher nehme ich denn die Überzeugung, dass mein Verständnis vom „Himmel“ unserer Erde tatsächlich gut tut? Was veranlasst mich zu glauben, dass mein Blick auf Gott und Welt irgendwas bewirkt?
Nein, so sicher weiß ich es nicht. Ich höre nur dieses leise „Komm her!“ in der Geschichte dieses Menschen Jesus, der mich von Gott überzeugt. Ich merke doch nur, wie sich mir im Erleben seines Lebens Herz und Hirn öffnen bei dem Gedanken, das tätige Mitfühlen könnte unsere Welt ein wenig paradiesischer machen – besonders für die Verstoßenen. Ich spüre darin doch nur, dass mich etwas fasziniert an der Idee, dass die Nähe zum Menschen wichtiger sein könnte als Trennungen in Rasse, Reichtum oder Religion. — Letzte Woche erinnerte mich meine Vierjährige an diese Ahnung, als sie mit zwei verschiedenen Socken in die Küche kam. Auf die Frage meiner Frau, warum sie denn unterschiedliche Socken anhabe antwortete sie in völliger Selbstverständlichkeit: „Weil die zusammengehören!“ J
Mit Petrus als dem Realbild eines um Glauben ringenden Menschen weiß ich es nicht einfach, wie ich einfache mathematische Formeln weiß – aber es ist so eine Ahnung, dass auf den Wellen ein Weg sein könnte; dass sich die nassen Füße lohnen könnten; dass schwimmende Standpunkte vielleicht gar nicht die schlechteste Wahl sein könnten, Wassergräben zu überwinden und Getrenntes miteinander zu verbinden.
(4) mutig
In aller Unsicherheit wagt Petrus den Schritt. Lässt sich vom zugesprochenen Mut inspirieren. Wohlgemerkt: Er geht nicht auf seine Initiative hin, sondern als Reaktion auf etwas, das ihm zugerufen wurde in sein zweifelndes Fragen hinein. Etwas, das größer war als all sein Mut, größer als er selbst: ein leises „Komm!“. Er geht – und macht die Erfahrung, dass es geht.
Was sind wir als Kirche, wenn wir uns immer nur in unserem Schiff verkriechen? Von Anfang an – nämlich mit Jesus aus Nazareth – geht das Christentum einen Weg, der sich durch manche Kompetenz im Wellenreiten ausgezeichnet hat. Ein Jesus, der alles beim Gewohnten belassen hätte? — Da wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, ihn als das Kind Gottes zu verehren. Eine Kirche, die immer alles genau so gemacht hätte wie alle anderen? Die wäre wohl in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Und doch geht es nicht nur um ein „Hauptsache anders“, sondern um das göttliche ‚anders’:
Dass hinter den Wellen von Gier und Ausbeutung die andere Wirklichkeit Gottes auf mich warten könnte, die leise fragt: „Muss es so sein?“ Dass aus dem Strudel der Gewalt von rechts bis links und dem globalen Wettrüsten mir fast unverständlich ein göttliches „Steig doch aus!“ entgegenblubbert. Und dass uns im Gegenwind etablierter Gewohnheit und persönlicher Verzweiflung ein himmlisches „Habt Mut!“ um die Ohren pfeift.
Das ist alles nicht einfach, und auch nicht exklusiv christlich. Christlich wird es uns, weil wir es aus dem Mund des Christus hören. Christlich macht es das Vertrauen darauf, dass wir mit Petrus immer wieder straucheln und scheitern dürfen. Dass wir hinter unserem „Rette uns!“ immer wieder die Hand erwarten dürfen, die uns in jedem Zweifel an der Durchsetzungskraft des Göttlichen über Wasser hält.
Wenn wir in den Stürmen, die wir als Menschheit erleiden und entfachen, den Mut verlieren und unterzugehen drohen, erwartet der christliche Glaube immer wieder die Rettung dessen, der für das Göttliche einsteht. Der das göttliche Funkeln in den Augen derer erblickt, denen die tätige Liebe begegnet. Den Gott, der nicht meinen Glauben erwartet, sondern ihn mir – klein wie er eben ist – zuspricht … nicht mein Vertrauen fordert, sondern es ermöglicht.
(5) aufgehoben
Mir kommt dieses realistische Bild des Petrus sehr nah, weil ich mich selbst darin entdecke: Als ein Mensch, der im Vertrauen auf die in Christus verkörperte göttliche Liebe mit Wind und Wellen zu kämpfen hat. Als jemand, der sich bei vielen Blicken vor die Tür und über den Tellerrand fragt: Wo ist sie denn, die Liebe? Und was kann sie schon verändern?
Petrus bleibt bezeichnenderweise nicht mit Jesus auf dem Meer stehen – das wäre nun physikalisch auch noch schwieriger, als übers Wasser zu laufen J Sie steigen zurück ins Boot. Dorthin, wo die anderen warten.
Auch hier kann ich mich gut an die Seite des Petrus stellen, weil ich wie er darauf angewiesen bin, in der Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Im Zusammensein mit denen, die mit mir vertrauen. Vielleicht ganz anders, aber doch immer in der Ausrichtung auf den Christus. Hier kommen die Stürme zur Ruhe … ich gebe zu: die Realität sieht da innerhalb der Kirchen doch anders aus. Und dennoch lese ich hier eine unglaubliche Aufwertung der Gemeinschaft, in der wir Einzelne aufgehoben sind. Und manchmal mag das sogar so tiefgreifend sein, dass diese Gemeinschaft mir mein Bekenntnis aufhebt. Petrus wird es erst zwei Kapitel später selbst sagen können. Für den Moment fängt ihn seine Gemeinschaft mit ihrem Bekenntnis auf. Zieht ihn, den Durchnässten, aus dem Wasser. Holt ihn an Bord, der an sich selbst verzweifelt. Nimmt die auf, die an der Lieblosigkeit des Lebens zu ertrinken drohen.
Das wäre mal ein Schiff Kirche, das die in Not geratene ins Boot holt und ihnen eine Stimme gibt für ihr fast verstummtes: „Rette mich!“ – und mit Blick in Richtung Mittelmeer ist das Bild unserer Erzählung heute wohl realer als je zuvor …
***
Zum Schluss ein Rückblick auf Petrus: weggescheucht, befremdet, realistisch, mutig, aufgehoben. So vieles, so vielschichtig, so echt und zweifelhaft, wie wir es selbst sind in unserem Leben als Menschen, die das „Komm her!“ des Christus hören. Als solche, die gehen und straucheln. Über Wasser laufen und sich nasse Füße holen. Die glauben und zweifeln. Als Einzelne in einer Gemeinschaft. Als Menschen, die auf die Liebe angewiesen sind im Hin und Her des Lebens – wie Petrus.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, wird eure Herzen und Sinne in Christus Jesus
bewahren. Amen. Phil 4,7