Exegetische Predigtnotiz #13: Mk 4,26–29

In der Reihe der Predigten über einige Gleichnisse Jesu bildet der folgende Text den Abschluss mit einer „Kurzgeschichte“ (so der Titel der Predigtreihe) aus dem Sondergut des Markusevangeliums.

1        Übersetzung

26 Καὶ ἔλεγεν·

οὕτως ἐστὶν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ
ὡς ἄνθρωπος βάλῃ τὸν σπόρον ἐπὶ τῆς γῆς

Und er (Jesus) sagte:

So ist das Regieren Gottes,
wie [wenn] ein Mensch den Samen auf die Erde geworfen hat:

27 καὶ καθεύδῃ
καὶ ἐγείρηται
νύκτα καὶ ἡμέραν,
καὶ ὁ σπόρος βλαστᾷ
καὶ μηκύνηται
ὡς οὐκ οἶδεν αὐτός.
Und schläft,
und aufsteht
– Nacht und Tag.
Und der Same geht auf
und wächst
– wie, das weiß er selbst nicht.
28 αὐτομάτη ἡ γῆ καρποφορεῖ,
πρῶτον χόρτον
εἶτα στάχυν
εἶτα  πλήρη[ς] σῖτον ἐν τῷ στάχυϊ.
Von selbst bringt die Erde Frucht hervor:
zuerst Halme,
dann Ähren,
dann den vollständigen Weizen in der Ähre.
29 ὅταν δὲ παραδοῖ ὁ καρπός,
εὐθὺς ἀποστέλλει τὸ δρέπανον,
ὅτι παρέστηκεν ὁ θερισμός.
Wenn aber die Frucht es erlaubt,
schickt er sofort die Sichel,
denn die Ernte ist da.

 

2        Beobachtungen

Der Text ist eine der wenigen Stellen (daneben nach Schweizer nur: Mk 3,20f; 7,31–37; 8,22–26; 9,49; 14,51f), die aus dem Mk-Stoff nicht in Mt oder Lk verarbeitet wurden.

 

2.1       Sprachlich

Sortiert man die Textelemente ein wenig (wie oben dargestellt), fallen sofort einige Gestaltungsmerkmale sprachlicher Art auf: Der Text spielt mit Aufzählungen in den Mittelversen V. 27f; in V. 27 begegnet ein Nebeneinander (καί und), während in V. 28 eine Abfolge (πρῶτον … εἶτα zuerst … dann) beschrieben wird.

Stichworte gliedern den Abschnitt in zwei Teile: der Same (σπόρον spóron) ist Thema des ersten Teil V. 26f, die Frucht bestimmt die zweite Perikopenhälfte in V. 28f. Beide Teile werden durch das Stichwort Erde (γῆ gē) „eingeleitet“.

V. 27 enthält eine parallele Struktur, die fast einen poetischen Charakter in zwei dreizeiligen Strophen aufweist. In V. 28 erscheint in der Ähre auf den ersten Blick stilistisch überflüssig. Es bricht die Klare Form des Verses auf und es entsteht der Eindruck einer besonderen Betonung des Satzteils.

2.2      Zu den einzelnen Versen

Zu V. 26: Aufschlussreich und für das Verständnis von Gleichnissen hilfreich ist schon die Einleitung. Die βασιλεία τοῦ θεοῦ  (basileía tú te:ú Königsherrschaft Gottes) wird nicht mit einer einfachen Sache verglichen, sondern mit einem Geschehen (daher der Versuch, das durch die Übersetzung „Regieren Gottes“ auszudrücken): nicht der Mensch gleicht dem, auch nicht der Same, sondern das Säen (βάλλω bállo werfen) des Samens auf die Erde. Anklänge und Identifizierungen lassen sich freilich nicht vermeiden, im Zentrum steht aber die Dynamik der Ereignisse.

Die βασιλεία lässt sich nur schwer auf einen inhaltlich ganz bestimmten Begriff bringen. Sie meint in etwa die Durchdringung des Lebens mit dem Leben Gottes, d. h. sie bezeichnet eine Art Zustand, in dem Leben so geschieht, wie es Gott entspricht. Was das inhaltlich bedeutet, ist in christlicher Tradition von Jesus Christus in seinem Leben, Predigen und Sterben her zu verstehen und immer wieder darauf zu beziehen.

Zu V. 27: Der Vers beschreibt anschaulich den alltäglichen Verlauf des Lebens mit Schlafen und Wachen (der jüdische/orientalische Tag beginnt mit dem Abend). Die beiden Versteile sind ähnlich aufgebaut, es folgt auf einen listenartigen Zweizeiler (je mit καί und eingeleitet) eine hervorgehobene Aussage. Das normale Leben derer, die aussäen wird parallel zu dem gestellt, was mit dem Samen passiert. So werden zwei parallele, aber unabhängig voneinander verlaufende Erzählebenen eingeführt: Mensch auf der einen Eben, Same auf der anderen. Die Gleichförmigkeit der Tagesstruktur wird der Unwissenheit über die biologischen Hintergründe der Entwicklung des Samens gegenübergestellt. So wie der Tag unaufhaltsam seinen Gang geht, so unbeeinflussbar (begründet im Nicht-Wissen) sprosst und wächst der Same. Im Hintergrund steckt Schöpfungstheologie, d. h. die Überzeugung, dass Gott (und Götter) für das Wachstum der Pflanzen sorgen.

Zu V. 28: Erneut begegnet das Stichwort Erde. Sie ist es, die Frucht hervorbringt, und zwar automatisch, von selbst. Es folgt eine prozesshafte Aufzählung, die das Wachstum illustriert: Gras (Halm), Ähre, voller Weizen. Der bereits erwähnte stilistische Überschuss in der Ähre könnte darauf hindeuten, dass der (später von der Ähre getrennte!) Weizen ein natürlicher Bestandteil und ein Ergebnis dieses Prozesses ist.

Zu V. 29: Manche Ausleger_innen vermuten, dass der Vers ursprünglich nicht zum Gleichnis gehört. Dafür gibt es gute Gründe, aber m. E. keine zwingenden. Vielmehr enthält der Vers mit dem Bild der Ernte einen natürlichen Abschluss für den zuvor beschriebenen Verlauf. Ohne Ernte bliebe das Wachstum letztlich unnütz, weil es niemandem zugute käme. Gerade davon ist aber die Rede vom Regieren Gottes überzeugt und bekommt in Christus ein anschauliches Beispiel: es kommt Menschen zugute. Anklänge an eine eschatologische Perspektive sind sicher unüberhörbar (vgl. Joel 4,13), das Erntemotiv ist für den Gedanken von einem letzten Gericht Gottes typisch. Es ist aber vor zu schneller Allegorese zu warnen: Vielmehr erfüllt die Ernte (wie gesagt) eine bestimmte Funktion innerhalb der dynamischen Erzählung und muss (und sollte) nicht überstürzt mit überkommenen theologischen Traditionen überfrachtet werden.

2.3      Fazit

Die Erzählung stellt den Vorgang des Wachstums in einen Bezug zum Reich Gottes. Aus meiner Sicht geht es gerade nicht um einen Kontrast von Same/Frucht (gegen Jeremias), sondern um den Weg vom einen zum anderen.

Zu bedenken ist, worauf sich das Gleichnis richtet: auf die zum Glauben rufende Verkündigung (so Dormeyer) oder auf das im Glauben geschehende Leben (so eher Schweizer)? Beides ist freilich nicht als sich ausschließende Alternativen zu verstehen sondern vielmehr als zwei Aspekte, die einander zugeordnet werden müssen. Leben im Glauben gibt es nicht ohne Verkündigung und umgekehrt. Das Gleichnis scheint mir aber eher einen Schwerpunkt auf den Lebensvollzug zu legen. Nicht moralisch und erst recht nicht gesetzlich, sondern vielmehr religiös in dem Sinne, sich in einer bestimmten Weise auf das (mit einiger Vorsicht gesagt: „automatische“) Wirken Gottes einzustellen und sich dazu zu verhalten. Von hier aus wäre aus meiner Sicht eine gebetstheologische Brücke zu schlagen, die dieses Sich-verhalten in dreierlei Weise zu benennen vermag: Die Ausrichtung auf das Regieren Gottes in den Formen von vorheriger Bitte und anschließendem Dank für ein als Wirken Gottes gedeutetes Geschehen, aber auch – und das bleibt meines Erachtens nach wie vor ein gemeindliches Desiderat – in der Klage, wo dieses Wirken sehnlich erhofft und schmerzlich vermisst wird.

3        Literatur

Dormeyer, Detlev, Mut zur Selbst-Entlastung (Von der selbstwachsenden Saat), in: Zimmermann, Ruben (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 22015 (12007). (Amazon.de)

Eckey, Wilfried, Das Markusevangelium: Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 1998. (Amazon.de)

Gnilka, Joachim, Das Evangelium nach Markus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, EKK 2 (Studienausgabe), Neukirchen-Vluyn 2010. (Amazon.de)

Jeremias, Joachim, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 111998 (11947). (Amazon.de)

Schweizer, Eduard, Das Evangelium nach Markus, Das Neue Testament Deutsch (NTD) 1, Göttingen 151978 (11936). (Amazon.de)

4        Anmerkungen

Kommentar verfassen