Am 22. Sonntag nach Trinitatis schlägt die Perikopenordnung in Reihe IV Römer 7,14–25a als Predigttext vor. Da ich mich gerne danach richte, habe ich das auch am entsprechenden Sonntag (4. November 2012) getan. Das Ergebnis möchte ich mit euch teilen und zur Diskussion stellen – denn ob ich dem Text tatsächlich gerecht werde, weiß ich ehrlich gesagt auch nach der Predigt in der FeG Bechlingen noch nicht. Ich freue mich auf eure Meinung zu Predigt und/oder Predigttext.
Einleitung
Stell dir mal vor, jemand würde dir den Auftrag geben, auf ein weißes Blatt Papier aufzupassen. Es soll möglichst nicht dreckig werden, damit man damit noch etwas sinnvolles anfangen kann. Zugegeben, das klingt nach einem recht merkwürdigen Auftrag. Aber wir kommen darauf im Laufe der Predigt noch darauf zurück, dann hilft es hoffentlich, den heutigen Predigttext etwas besser zu verstehen – da geht es nämlich auch um eine Art Auftrag – um das Gesetz Gottes.
Römer 7,14–25a / Gute Nachricht Bibel
14 Es steht außer Frage: Das Gesetz ist »geistlich«, es kommt von Gott. Wir aber sind »fleischlich«, das heißt schwache Menschen, der Macht der Sünde ausgeliefert. 15 Wir sind uns nicht im Klaren darüber, was wir anrichten. Wir tun nämlich nicht, was wir eigentlich wollen, sondern das, was wir verabscheuen. (Gal 5,17) 16 Wenn wir aber das Böse, das wir tun, gar nicht tun wollen, dann beweist das, dass wir dem Gesetz zustimmen und seine Forderungen als berechtigt anerkennen.
17 Nicht wir sind es also, die das Böse tun, vielmehr tut es die Sünde, die sich in uns eingenistet hat. 18 Wir wissen genau: In uns selbst, so wie wir der Sünde ausgeliefert sind, lebt nicht die Kraft zum Guten. Wir bringen es zwar fertig, uns das Gute vorzunehmen; aber wir sind zu schwach, es auszuführen. (Gen 8,21; Phil 2,13) 19 Wir tun nicht das Gute, das wir wollen, sondern gerade das Böse, das wir nicht wollen. 20 Wenn wir aber tun, was wir gar nicht wollen, dann verfügen nicht wir selbst über uns, sondern die Sünde, die sich in uns eingenistet hat.
21 Wir finden demnach unser Leben von folgender Gesetzmäßigkeit bestimmt: Ich will das Gute tun, bringe aber nur Böses zustande. 22 In meinem Innern stimme ich dem Gesetz Gottes freudig zu. 23 Aber in meinen Gliedern, in meinem ganzen Verhalten, sehe ich ein anderes Gesetz am Werk. Dieses Gesetz liegt im Streit mit dem Gesetz, das ich innerlich bejahe, und macht mich zu seinem Gefangenen. Es ist das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern regiert und mir mein Verhalten diktiert. (Gal 5,17)
24 Ich unglückseliger Mensch! Wer rettet mich aus dieser tödlichen Verstrickung? (1Kor 15,57) 25 Gott sei gedankt durch Jesus Christus, unseren Herrn: Er hat es getan!
Ein schwieriger, komplizierter Text. Ich bin mir auch ehrlich gesagt nicht sicher, ob man selbst in mehreren Predigten darüber so predigen kann, dass alles, was drinsteckt auch verarbeitet wird. Ich versuche deshalb heute einen – um genau zu sein bei meinem – recht groben Überblick. Der Text fragt zwar nach dem Gesetz Gottes und dem Tun des Menschen – ich vierteile die Predigt aber einmal ganz menschlich-egoistisch nach dem, was mich betrifft mit den vier Schlagworten:
GEBOTEN
GESPALTEN
GEFANGEN
GERETTET
1. GEBOTEN (14–16)
Die Voraussetzung für unseren Text ist, dass dem Menschen etwas geboten ist. Für die Gemeinde in Rom muss das nicht weiter erklärt werden. Paulus schreibt wohl vor allem an die jüdisch geprägten Christen in der Gemeinde, um sie für seine Mission im Westen für sich zu gewinnen und seine Lehre zu erklären. Für sie ist „Gesetz“ das niedergeschriebene Gebot Gottes in der sogenannten Tora – den fünf Mosebüchern. Jesus hat einmal auf den Punkt gebracht und kurz und knapp zusammengefasst, was drinsteht – und das übernehme ich heute für meine Predigt:
„Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, mit ganzem Willen und mit deinem ganzen Verstand. (Dtn 6,5) … gleich wichtig ist ein zweites: Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. (Lev 19,18) In diesen beiden Geboten ist alles zusammengefasst, was das Gesetz und die Propheten fordern.“
Das halte ich für etwas sehr Gutes. Gott zu lieben, heißt: Ich liebe den, der mich zuerst geliebt hat. (Dtn 7,8; 1. Joh 4,19) Und meinen Mitmenschen zu lieben heißt im Idealfall, dass Liebe zu mir zurückkommt – weil das Gebot ja auch meinem Mitmenschen gilt, der mich lieben soll. Das ist ein Kreislauf. Wenn das also der Kern des Gesetzes ist, das von Gott kommt (V14), dann halte ich es logischerweise auch für richtig, das zu wollen. Denn es ist gut, das Gesetz. Es will mir ermöglichen, mein Leben zu gestalten. Oder noch besser: Es will uns ermöglichen, Leben zu gestalten. Wenn Liebe herrscht, gibt es Möglichkeiten, Chancen, Hilfe, Ermutigung, … das klingt zwar utopisch, aber man darf da ruhig mal ein bisschen träumen. Und wenn ich so davon träume, dann überzeugt mich das schon davon, dass Gottes Gesetz gut ist. Paulus setzt aber noch einen oben drauf, wenn er – in etwa sinngemäß – sagt: Weil ihr dagegen verstoßt, gebt ihr dem Gesetz recht. Denn: Ich tue damit etwas, was ich eigentlich gar nicht will (V16). Eine bestechende Argumentation, wie ich finde. Weil ich schlecht finde, dass ich etwas anders tue, als das Gesetz es will, gebe ich dem Gesetz damit recht. Oder etwas praktischer: Wenn ich es falsch finde, lieblos mit jemandem umzugehen, gestehe ich ein, dass ein liebevoller Umgang richtig wäre. Und zurück zu unserem Papier: Wenn ich es absichtlich dreckig mache, werde ich mir sobald ich es brauche doch denken: „So ein Mist, hätte ich es mal sauber gehalten.“ Nachher ist man immer schlauer. Und das gilt zugegebenermaßen auch für unseren Text. Denn Paulus beschreibt die Situation aus einer Rückschau, nicht als jemand in der Situation. Was ich tue kommt mir in dem Moment ja meistens sinnvoll vor und entpuppt sich höchstens im Nachhinein als Schwachsinn. Aber halten wir erst einmal fest: Was ich eigentlich soll, ist gut und sinnvoll.
2. GESPALTEN (17–20)
Das Problem an der ganzen Sache: Was ich eigentlich soll, das ist ein göttliches Gesetz und unser Handeln ist menschlich (V14). Wir tun es als Menschen und in menschlichen Verhältnissen. Paulus stellt fest: Das was ich eigentlich will oder wollen sollte, das tue ich überhaupt nicht. — Was ist mit mir los, dass ich das in mir selbst nicht überein bekomme? Bin ich zu schwach, wie es die Gute Nachricht Bibel übersetzt? In gewisser Weise vielleicht schon, aber ich glaube „gespalten“ trifft unseren Zustand noch etwas besser. Wenn ich nicht tue, was ich eigentlich will, dann muss da noch etwas anderes am Werk sein, was mich davon abhält, zu tun was ich eigentlich will. Und das ist die Sünde. Er beschreibt sie als eine Macht, die uns davon abhält, nach dem eigentlich guten Gesetz zu handeln. Sie ist eine Art Gegengesetz. Wenn mir gesagt ist: „Fass nicht in die Steckdose!“, sagt sie: „Fass ruhig rein!“. Wenn mir gesagt ist: „Iss den giftigen Pilz nicht!“, sagt sie: „Probier es doch mal aus. Lass dir doch nicht dein Leben vorschreiben!“. Wenn mir gesagt ist: „Liebe deine Mitmenschen!“, sagt sie: „Mitmenschen? Erstmal geht es ganz allein um dich!“. Die Sünde ist im Menschen am Werk und beeinflusst, was ich tue. Und deshalb tue ich nicht das, was ich eigentlich will. Eigentlich will ich das Papier ja sauber halten. Ich muss ja vielleicht noch meine Bewerbung darauf ausdrucken. Aber ich bekomme es nicht hin. Ich bin doch ganz vorsichtig – trotzdem wird es dreckig …
Die Macht der Sünde durchzieht alles, was der Mensch tut. Dabei merkt er es vielleicht nicht einmal. Schnell bekommt jemand das, was ich sage, in den falschen Hals. Ein frei erfundenes Beispiel: „Schatz, warst du beim Frisör?“ — „Nein, findest du etwa, ich müsste, oder was???“ Und dabei wollte ich ihr doch eigentlich nur ganz kompliziert sagen, dass sie gut aussieht … und habe es nicht hinbekommen. Es ist sogar völlig falsch rübergekommen. Vielleicht kannst du dir ausmalen, wohin solche Missverständnisse führen können. „Nie machst du mir Komplimente!“ — „Immer verstehst du alles falsch!“ — das schaukelt sich schnell hoch und richtet Unheil an. Da will man eigentlich etwas liebevolles sagen und findet sich kurz später in einem lieblosen Streit wieder. Das ist zum Verzweifeln. Auch wenn das leider manchmal einfach so ist. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen, es gehört – so traurig und schmerzhaft das auch ist – zum Leben dazu, dass die Macht der Sünde vieles gut gemeinte in Lieblosigkeit verdreht. Sich immer mal wieder daran zu erinnern, dass die Sünde so manches verdreht, macht bescheiden. Auch mein Mitmensch ist durch die Macht der Sünde gespalten zwischen Gesetz und Gegengesetz. Und ich selbst trage, wenn ich ehrlich bin, doch auch immer mal wieder zu Unheil in meinem Umfeld bei.
3. GEFANGEN (21–23)
Das Ganze ist ein Teufelskreis. Ein scheinbar unendlicher Kreislauf, in dem immer wieder das böse Gesetz der Sünde gegen das gute Gesetz Gottes gewinnt. Ein Kampf, bei dem ich zwar hochmotiviert in den Ring steige, dann aber doch immer wieder zu Boden gehe. Es scheint so, als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz (V21) – vielleicht kann man sogar von einem Naturgesetz – einer Naturgewalt –sprechen. Dagegen kommt der Mensch anscheinend nicht an. Was passiert, wenn dieser Kreislauf immer so weiter geht, kann man sich denken: Wenn ich das Gute, das ich will, nicht zustande bringe, dann wird es immer schlimmer. Wenn ich das Blatt Papier immer weiter hin und her bewege, wird es nur noch dreckiger. Und dann macht es mich auch wieder dreckig … und es macht andere dreckig, die es auch anfassen … und andere Blätter werden dann auch dreckig … bis alles ganz schwarz ist und um darauf zu schreiben ist es nicht mehr zu gebrauchen. Das führt letztlich ins verderben.
„In meinem Innern stimme ich dem Gesetz Gottes freudig zu.“ (V22) Selbstverständlich, denn wie gesagt: das Gesetz Gottes ermöglicht Leben. Und ich will ja leben. Natürlich stimme ich dem zu. Aber ich handle anders. Oder besser gesagt: die Sünde bringt mich dazu, anders zu handeln. Sie hält mich in diesem Kreislauf gefangen. Warum das ins verderben führt, liegt auf der Hand: Wenn ich mit meinem Verhalten dem Gesetz des Lebens – also dem Leben selbst – widerspreche, verläuft das am Ende tödlich. Zumindest, wenn das Verhalten die entscheidende Grundlage ist. Wenn ich aufgrund dessen beurteilt werde, was ich tue, dann habe ich keine Chance. Wenn ich am Ende danach beurteilt werde, wie das Blatt Papier aussieht, dann habe ich ganz schlechte Karten.
Doch das ist ein Gedanke, gegen den Paulus sich wehrt. Er wehrt sich dagegen, dass der Mensch aufgrund seiner Taten von Gott angenommen wird. (Röm 3,28) Er wehrt sich dagegen, dass der Mensch in diesem Kreislauf gefangen sein muss.
4. GERETTET (24–25a)
„Ich unglückseliger Mensch! Wer rettet mich aus dieser tödlichen Verstrickung?“ (V24) Ein Schrei der Verzweiflung. Wer so fragt, dem ist bewusst: Von selbst komme ich da nicht mehr raus – das sollte bis hierher klar geworden sein. Das funktioniert vielleicht noch bei Baron Münchhausen, der sich mitsamt seinem Pferd an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zog. Aber das ist hier wie dort an den Haaren herbeigezogen. In meinen Sumpf hat die Macht der Sünde mich so tief eingegraben, dass mich keine Anstrengung mehr nach oben bringt. Im Gegenteil: Je mehr ich anfange zu strampeln, desto tiefer zieht es mich nach unten. „Ich unglückseliger Mensch! Wer rettet mich aus dieser tödlichen Verstrickung? Gott sei gedankt durch Jesus Christus, unseren Herrn: Er hat es getan!“ (24f) Das kommt im Text ziemlich plötzlich – und dennoch passend. Am Tiefpunkt der schlimmsten Verzweiflung geht der Blick hin zu Gott. Denn ER hat mich unglückseligen Menschen aus dieser tödlichen Verstrickung gerettet. Dieser Zwischenruf hat für mich etwas von Atemholen. Nach einer anstrengenden Argumentationskette holt Paulus endlich Luft – bei Gott. Das war alles „nur“ eine Rückschau. Natürlich, davon klingt noch das eine oder andere bis heute nach. Ich tue noch immer nicht ständig das, was gut und richtig wäre. Noch immer klafft da ein Graben zwischen meinem eigentlichen Wollen und dem, was beim Tun heraus kommt. Aber etwas grundlegendes sieht Paulus nun mit anderen Augen: Ob wir von Gott angenommen sind, hängt nicht daran, ob wir das Gesetz bis ins kleinste Detail erfüllen. Weil Jesus die Macht der Sünde durchbrochen hat, stehen wir auch nicht mehr unter dem Zwang eines Gesetzes, das wir sowieso nicht erfüllen können, sondern unter der Gnade Gottes. (Röm 6,14) Wir leben nicht mehr durch Gesetzerfüllung, sondern wir leben durch Gnade. Gott vergibt, weil wir als Person ihm wichtiger sind als das, was wir mit unserem Tun anrichten. Das Papier ist dreckig. Daran ändert sich so schnell nichts. Aber Gott schaut nicht das Blatt Papier an, sondern den Menschen – dich! Ich muss nicht mehr in Panik verfallen, weil ich das Papier dreckig gemacht habe, sondern stehe als Person vor meinem Gott, der mich unendlich liebt.
Ich muss trotz allem auch die Konsequenzen für das tragen, was ich tue. Versteht mich da nicht falsch. Das ist auch Paulus wichtig. (Röm 6,15f) Was Gott von uns will, ist damit nicht gleichgültig, aber es erscheint aus einer ganz neuen Perspektive, weil ich begreife, dass es gut und sinnvoll ist. Weil ich Gott als den erfahren habe, der den Menschen Leben ermöglicht, deshalb vertraue ich ihm. Deshalb tue ich Gottes Willen, wenn ich Gott liebe und liebevoll mit meinen Mitmenschen umgehe. Wie hat Jesus gesagt? „In diesen beiden Geboten ist alles zusammengefasst, was das Gesetz und die Propheten fordern.“ (Mt 22,40) Wir sind durch Jesus dazu befreit, dieses Gesetz tatsächlich zu erfüllen: Nämlich im liebevollen Blick auf den anderen, um meinem Mitmenschen zu helfen. Nicht mehr im egoistischen Blick auf mich selbst, um mich selbst zu retten. Meine Rettung hat Jesus schon vollbracht, darum muss ich mich als Christ nicht kümmern.
Ich möchte mit einem anderen Vers aus dem Römerbrief meine Predigt beenden: „Denn für mich steht fest: Allein aufgrund des Glaubens nimmt Gott Menschen an und lässt sie vor seinem Urteil als gerecht bestehen. Er fragt dabei nicht nach Leistungen, wie das Gesetz sie fordert.“ (Röm 3,28) Wir sind von Gott angenommen, weil wir zu unserem Herrn und Retter Jesus Christus gehören. Nicht, weil wir etwas leisten – das geht oft genug schief. Erinnern wir uns immer wieder gegenseitig daran. Und erinnern wir uns auch gegenseitig daran, was Gottes Gesetz eigentlich von uns will: Dass wir Gott und die Menschen lieben – und freiwillig auf das Papier aufpassen. Weil es sinnvoll ist. Und weil ER zuerst auf uns aufgepasst hat.