Aus der heutigen Vorlesung „Exegese Lukasevangelium“ (zu Lukas 7,36-50) habe ich einen herausfordernden Satz mitgenommen, der wirklich stark ist – eine sehr starke Zusage, aber auch starker Tobak …
„Liebe ist die notwendige Folge der Vergebung.“
Ich hätte Lust, den Satz in seine Einzelteile zu erlegen (in einem positiven Sinn) – viel mehr interessiert mich aber eure Meinung dazu. Ist Liebe die notwendige Folge der Vergebung?
Notwendig, aber sooft klappt es dann ja doch nicht! Was heißt also notwendig?
Ich verstehe notwendig hier zweifach:
1) Notwendig, weil es so sein wird wenn ich verstanden habe, was Gottes Vergebung für mich bedeutet – und daher als Zuspruch.
2) Notwendig, weil es so sein sollte – und daher als positiver (weil Liebe an sich ja nichts Schlechtes ist) Anspruch.
Eine spannende Frage ist: Was ist da los, wo die Liebe keine Folge ist?
Mal ein Gedankenspiel:
Definieren wir Vergebung als den Akt, der uns frei macht und uns wieder in eine ungebrochene Beziehung stellt. Definieren wir ferner Liebe als bewusste Entscheidung für eine Person und damit verbunden die Entscheidung eines der geliebten Person wohlgefälligen Verhaltens gegenüber der geliebten Person. Hinzu kommt folgende These: Wer von einer Person aus zerstörerischer Gefangenschaft befreit wird, wird dieser Person gegenüber dankbar sein und diese Dankbarkeit in Form von Liebe ausdrücken.
Dann ergibt sich folgendes Bild: da Gott uns von der Gefangenschaft der Sünde und der von ihr bedingten zerstörerischen Konsequenzen frei macht, ist die Folge Gott entgegengebrachte Liebe. Da sich diese Liebe (unter Anderem) in der Entscheidung zu einem Gott wohlgefälligem Verhalten und an sich auch in einem solchen Verhalten selbst manifestiert, dieses aber seinerseits eine den Mitmenschen entgegenzubringende Liebe impliziert, ist die Folge der Vergebung somit Liebe, die sowohl Gott als auch den Menschen entgegen gebracht wird.
Interessant ist die Frage „Was ist da los, wo die Liebe keine Folge ist?“ Eine These wäre, dass die Menschen, bei welchen die Liebe keine Folge der Vergebung ist, nicht ergriffen und verstanden haben, was Vergebung (für sie) bedeutet.
Zwei Punkte sind bei diesem Gedankenspiel noch zu berücksichtigen. Zum einen sollte die Frage nach dem Ausbleiben der Liebe trotz Vergebung nicht punktuell betrachtet werden. Denn der Mensch ist und bleibt Fehlbar.
Zum anderen ist dieses Gedankenspiel freilich ausschließlich auf der Seite des Menschen zu verankern. Denn sonst würde es bedeuten, dass die Liebe Gottes selbst eine Folge von Vergebung darstellt – ein Gedanke, der ebenso merkwürdig wie theologisch verwerflich ist.
Interessant ist jedoch die „Umkehrung der Verhältnisse“. Denn man könnte doch sagen, dass auf Seiten der Menschen die Liebe Folge der Vergebung ist, während auf Seite Gottes die Vergebung Folge seiner Liebe ist!
Dem denket nach. 😉
Ich finde den Hinweis auf die Vermeidung punktueller Betrachtung sehr hilfreich. Da Menschsein (und natürlich auch Christsein) prozesshaft ist, sollte das auch in der Frage nach den Folgen der erfahrenen Vergebung zum Tragen kommen. Wie ist das angemessen zu gewährleisten? Sicher nicht – und daher vielen Dank für den Hinweis – in einer punktuellen Betrachtung, die jedes Verhalten des Menschen für sich an diesem Kriterium misst. Vielmehr könnte es darum gehen, die konsequente Liebe als Leitbild eigenen Verhaltens zu sehen: sich von der Liebe bestimmen zu lassen. Das trägt der Fehlbarkeit des Menschen und seiner Bedürftigkeit nach Aktivität von außen („für uns“) Rechnung, behält aber auch das (menschlich unerreichbare) Ideal im Blick, zu dem der Mensch eschatologisch bestimmt ist.
Insofern muss man wohl sagen, dass die Liebe als Folge der Vergebung nur defizitär als Kriterium dafür dienen kann, ob oder wie sehr die Vergebung jemanden ergriffen hat. Defizitär deshalb, weil es wohl nur im Hinblick auf die eschatologische Bestimmung (und deshalb für gegenwärtiges und zukünftiges Verhalten) dem Menschen dient, in der Rückschau aber zu Gesetz und Urteil wird oder wenigstens werden kann.
Kurz: Die Liebe als Folge der Vergebung ist das, woraufhin ich mich als Christ notwendig zubewege.
Ich frage mich aber, ob das angemessen ist oder nicht vielleicht der zugrunde gelegten Aussage die Schärfe nimmt.
Ich finde die Differenzierung zwischen dem Ideal und dem Defizitären sehr gut und angemessen. Und sicherlich kommt die Frage auf, ob das der eigentlichen Aussage nicht die Schärfe nimmt.
Meines Erachtens kommt es auf die eigene Einstellung an. Gebe ich dem Defizitären die Priorität und falle dann in eine passive Grundhaltung (was dem Verständnis von Liebe im Sinne der Agape an sich widerspricht), oder strebe ich dem Ideal nach, wenngleich dies erst im Eschaton zu erreichen ist?
Nur so ein Gedanke: An anderen Stellen spricht Jesus z. B. von Früchten die seine Jünger bringen. Früchte sind etwas, das wächst. Dieses Wachstum können wir nicht provozieren, wohl aber verhindern. Ähnlich ist dies mit dem – von dir sehr gut festgestellten – Prozess der Liebe als Folge der Vergebung zu sehen, ist doch das Verständnis von Vergebung und die Auswirkung im eigenen Leben letztlich auch ein Prozess. Ein Prozess, den Gott schenkt und mit uns geht. Den können wir zu lassen, ausbremsen oder schlimmsten Falls sogar verhindern. Aufgezwungen wird uns dieser Prozess nicht. Fraglich ist nur: will ich mich diesem Prozess wirklich verweigern, oder führt die Wahrnehmung und Wirkung der Vergebung nicht letztlich dazu, dass ich regelrecht nicht anders kann als zu Lieben?
Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Liebe ist eine notwenige Folge von Vergebung, jedoch keine Eigenleistung. Denn zuviel Schärfe bekommt die Aussage, wenn sie verwendet wird um Liebe zu erzwingen (was nicht geht), Liebe als Leistung zu betrachten, sie zu fordern und damit letztlich in dem zu landen, was gemeinhin „Gesetzlichkeit“ genannt wird. Überhaupt, wer bestimmt denn das Maß der Liebe und wie sie im Leben der Menschen sichtbar wird? Nach welchen Kriterien wird gemessen? Und steht ein letztgültiges Urteil nicht allein Gott zu? Hier sei davor gewarnt, andere (oder gar sich selbst) zu verurteilen, aufgrund unangemessener Maßstäbe im Sinne der eigenen Meinung die zu Dogmen erhoben wird! So komme ich abschließend zu zusammenfassend folgenden Thesen, die zur Diskussion freigegeben sind:
1. Liebe ist eine notwendige Folge der Vergebung. Wird zugunsten der Schärfe der Aussage die Prozesshaftigkeit des menschlichen Lebens übergangen, so besteht die Gefahr die Liebe nicht als Folge der Vergebung stehen zu lassen, sondern diese zu einer der Aussage und dem Evangelium an sich unangemessenen Forderung zu erheben. Damit einher geht die Gefahr, die eigene (bruchstückhafte) Erkenntnis absolut zu setzen und zum Maßstab und Kriterium der Beurteilung des Maßes der Liebe zu erheben.
2. Da die von Gott geschenkte Vergebung keinerlei Leistung des Menschen unterworfen ist, somit nicht als Verdienst angesehen werden kann, ist dies auch für die Liebe als notwendige Folge der Vergebung anzunehmen. Wenngleich eine bewusste Entscheidung für die Agape getroffen werden kann, so ist sie dennoch etwas, was Gott schenkt. Denn weitergeben kann der Mensch nur, was er empfängt.
3. Wenngleich der Prozess hin zum Ideal dieser Liebe vom Menschen ausgebremst oder gar verhindert werden könnte, so ist durchaus denkbar, dass aufgrund der tiefgreifenden Veränderung des Menschen durch die Vergebung dieser nicht anders kann als sich dem Prozess zu stellen.
4. Wenngleich der Mensch durch das Empfangen der Vergebung Gottes augenblicklich frei wird von der Sünde und wieder in einer ungebrochenen Beziehung zu Gott steht, so ist es ihm dennoch unmöglich, in diesem Augenblick das volle Maß der Vergebung in letzter Tiefe zu ergreifen und die Liebe als notwendige Folge der Vergebung ungebrochen umzusetzen. Durch ein immer tieferes Verstehen der Vergebung im Laufe des Lebens und parallel ein immer deutlicheres Sichtbarwerden der Lebe als notwendige Folge der Vergebung zeigt sich die Prozesshaftigkeit im Leben des Menschen.
5. Daher erwächst Liebe als notwendige Folge der Vergebung nicht nicht aufgrund eigener Leistung, sondern im Laufe eines Prozesses, welcher von Gott gesteuert, vom Menschen aus der Beziehung zu Gott heraus wahrgenommen und zugelassen und in kirchlichen Kreisen „Heiligung“ genannt wird. Die bewusst für die Agape getroffene Entscheidung entspricht dann einer bewussten Entscheidung, sich nicht gegen diesen Prozess zu stellen.
Was meint ihr dazu?
Nachtrag zur 5. These: Der Prozess begleitet den Glaubenden ein Leben lang und findet seine Vollendung letztlich im Eschaton!
Ich denke, dass es auf menschlicher Seite nicht nur die Entscheidung für die Agape, sondern auch die Entscheidung zur Agape gibt, wobei die Entscheidung zur Agape immer die Entscheidung für die Agape voraussetzt. Die Entscheidung zur Agape ist für mich dadurch qualifiziert, dass ich in zwischenmenschlicher Perspektive die Entscheidung treffe mein Gegenüber mit Gottes Augen zu sehen, Gottes uneinggeschränktes „Ja“ zu dieser Person mit meiner eigenen Haltung nachzuvollziehen. Im Blick auf Gott qualifiziert sich die Entscheidung für die Agape für mich dadurch, dass alles was mich ausmacht durch die Liebe zu Gott bestimmt wird (vgl. Mt. 22,37). Wollte das nur für das Gesamtbild mal anmerken.
Bestimmt meine Liebe zu Gott, was ich tue? Oder bestimmt nicht eher Gottes Liebe zu mir, was ich tue? Faktisch ist es wohl ersteres, Leitbild sollte aber doch sein, dass Gottes Liebe zu mir Grundlage und „Ideal“ meines Lebens ist, oder?
„Entscheidung für die Agape“ ist gemeint im Sinne des der Agape entsprechenden Handelns. Zugegeben, war etwas unscharf formuliert.
Abgesehen davon: ich würde Gottes Liebe nicht als „Ideal“ meines Lebens bezeichnen. Denn Gottes Liebe ist dem Menschen gegenüber ungebrochen. Ideal impliziert m. E. jedoch einen nicht zu erreichenden Stand.
Aber um auf deine Frage zurück zu kommen. Ich würde sagen, dass Gottes Liebe dem Handeln des von dieser Liebe angesprochenen Menschen voraus geht. Denn erst begegnet Gott in seiner Liebe dem Sünder, bevor dieser, im Bewusstsein der Vergebung seiner Sünde (Sünde will hier nicht als Tatsünde, sondern als Beziehungsbegriff verstanden werden), Gott mit Liebe antwortet. Hier sei der Fakt eingeworfen, dass Christus für uns Starb (was zweifelsfrei eine Liebestat Gottes war), als wir noch Sünder waren und somit Gott keine Liebe entgegen gebracht haben (vgl. Röm 5,6-8).
Insofern schließt sich der Kreis wieder: „Liebe ist die notwendige Folge der Vergebung“. Und damit ist es Gottes Liebe zum mir, die mich dazu bringt ihn zu Lieben und damit bestimmt, was ich tue.
Jetzt bleibt zu fragen, warum Liebe „die notwendige“ Folge der Vergebung ist. Eine Möglichkeit das zu denken wäre: die Liebe Gottes, die er mir zuerst entgegen bringt führt unweigerlich – so sie angenommen wird – dazu, Gott zu lieben. Insofern ist sie also „notwendige“ Folge der Vergebung. „Notwendig“ also im Sinne von Kausalität.
Freilich ist der Gedanke konzeptuell zu verstehen. Wie könnte es noch gedacht werden?