Jesus? Wer bist du denn?

Diese Predigt war die erste, die ich in der FeG Cuxhaven, in der ich ein sechmonatiges Praktikum mache, gehalten habe. Sie beschäftigt sich mit dem Perikopentext für den Sonntag „Reminiscere“ und versucht, den christologischen Anspruch Jesu anhand dieser Stelle herauszuarbeiten. ((Foto: daniel.schoenen / photocase.de))Jesus? Wer bist du denn?

Die Frage: Wer bist du denn?

„Jesus? Wer bist du denn?“ — Ich weiß nicht, was ihr gedacht habt, falls – oder als – ihr das Thema für heute Morgen gelesen habt. Vielleicht: „Aha – jetzt will uns der neue Praktikant wohl mal erzählen, wer Jesus ist … “ Das will er tatsächlich 😉 Aber nicht, weil ich es besser wüsste, sondern weil es zum heutigen Sonntag im Kirchenjahr passt. Der hat nämlich einen besonderen Namen, den ich aufgreifen möchte: „Gedenke!“. ((Eigentlich geht es um Gottes Gedenken an seine Barmherzigkeit (Ps 25,6).)) Wir wollen uns heute erinnern lassen. Ich sage euch auch schon gleich zu Beginn, woran: In allem, was Jesus sagt und tut, sehen wir, wie Gott ist. Der dazu passende Predigttext kommt aus Johannes 8. Ich lese die Verse 25–31 nach der „Gute Nachricht Bibel“:

25 »Du? Wer bist du denn?«, fragten sie ihn.

Jesus antwortete:  »Was rede ich überhaupt noch zu euch? 26 Ich hätte zwar vieles über euch zu sagen und allen Grund, euch zu verurteilen; aber der, der mich gesandt hat, steht zu seinen Zusagen; und ich sage der Welt nur das, was ich bei ihm gehört habe.«

27  Sie verstanden nicht, dass Jesus vom Vater sprach.

28 Deshalb sagte er zu ihnen: »Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, werdet ihr es begreifen: Ich bin der, an dem sich alles entscheidet. Dann werdet ihr auch erkennen, dass ich nichts von mir aus tue, sondern nur das sage, was der Vater mich gelehrt hat.  29 Er, der mich gesandt hat, steht mir zur Seite und lässt mich nicht allein; denn ich tue stets, was ihm gefällt.«

30 Als Jesus das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn.

Wir befinden uns mit diesem Text schon mitten in einer heißen Diskussion zwischen Jesus und der jüdischen religiösen Oberschicht. Ich fasse mal in aller Kürze zusammen: Jesus hatte seinen Gesprächspartnern schon äußerst merkwürdige Dinge gesagt, die sich sehr überheblich anhörten – wir haben davon schon etwas in der Begrüßung gehört, von einer Tür, einem Hirten, Brot, …. und er hatte sich auch für damalige Verhältnisse ziemlich komisch verhalten – aber dazu später mehr. Und dann noch diese Provokation: „Ich bin der, an dem sich alles entscheidet.“ Stellt euch vor, da käme plötzlich ein Praktikant in eure Gemeinde und würde euch erzählen: „Ich bin übrigens der, an dem sich alles entscheidet!“ Was für eine arrogante Aussage, oder? Das würde ihm niemand abkaufen! „Wer ist dieser Mensch, dass er sich so etwas herausnimmt?“ — Jesus erlaubt sich das, und die Reaktion der Pharisäer ist doch nur allzu verständlich: „Du? Wer bist du denn?“

Ich glaube, diese Frage hat nichts von ihrer Brisanz und ihrer Aktualität verloren. Die Frage stellt sich damals wie heute: „Jesus? Wer bist du denn?“ Lassen wir uns doch heute an eine Antwort von Jesus selbst erinnern, denn er antwortet auf diese Frage – und zwar doppelt, indem er erstens an seinen eigentlichen Auftrag erinnert und zweitens die Art und Weise der Ausführung seines Auftrags ins Gedächtnis ruft. Schauen wir uns das mal an …

Erste Antwort: Der eigentliche Auftrag

25 „Du? Wer bist du denn?“, fragten sie ihn.

Eine berechtigte Frage. Wer ist dieser Mensch, dass er solch hohe Ansprüche stellt? Anstatt eine einfache Antwort zu geben, beginnt Jesus mit einer Gegenfrage, die abwertender kaum klingen könnte:

Jesus antwortete: »Was rede ich überhaupt noch zu euch? 26 Ich hätte zwar vieles über euch zu sagen und allen Grund, euch zu verurteilen; aber der, der mich gesandt hat, steht zu seinen Zusagen; und ich sage der Welt nur das, was ich bei ihm gehört habe.«

Jetzt kann man dabei stehen bleiben, dass sich das sehr überheblich anhört – „Was rede ich überhaupt noch zu euch?“. Aber ich glaube, dahinter steckt auch ein gutes Stück Verzweiflung, die verzweifelte Erkenntnis: „Sie haben immer noch nicht verstanden, wer ich bin. Nichts, was ich sage, nehmen sie ernst.“ Ganz ehrlich: warum sollte man auch mit jemandem reden, der einen überhaupt nicht ernst nimmt? Warum sollte Jesus mit denen reden, die ihn sogar umbringen wollen? Und doch tut er es. Obwohl die Aussichten, ernstgenommen zu werden, ganz schlecht sind, versucht Jesus immer wieder zu erklären, wer er ist. Nicht nur, dass er überhaupt mit seinen Gegnern redet – er redet dazu auch nicht über sie – obwohl er könnte. Er verurteilt sie auch nicht – obwohl er allen Grund dazu hätte. Wie faszinierend ist das denn? Er könnte jetzt anfangen über die Pharisäer herzuziehen: „Ihr seid so dämlich. Warum kapiert ihr nicht, wer ich bin?“ Er könnte sie sogar verurteilen: „Dass ihr mich nicht ernst nehmt, wird euch noch teuer zu stehen kommen.“ All das tut Jesus aber nicht. Warum? Jesus sagt: „Der, der mich gesandt hat, steht zu seinen Zusagen.“ (8,26) Zu seinen Zusagen. Das ist zwar eine ergänzende Erläuterung in der Übersetzung, aber sie trifft es. Gott will nur das Beste für alle Menschen. Die eigentliche Absicht der Sendung von Jesus ist die Rettung der Welt. Nicht die Vernichtung. Das lesen wir – ganz bekannt – in Johannes 3,16: „Weil Gott die Welt liebt, schickte er seinen Sohn, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht vernichtet werde, sondern ewig lebe.“ DAS ist sein Auftrag, Gottes Mission. Gott hat keinerlei Interesse daran, dass Menschen verurteilt werden. Das wäre ja so, als würde ein Notarzt zu einem Einsatz fahren und sich dann dort nur alles anschauen, vielleicht ein paar Fotos mit dem Handy schießen, den Verletzten zurufen: „Oh, euch muss jemand helfen, sonst sieht das ganz übel aus!“ – oder noch besser: „Ui, das wird nichts, ihr werdet alle sterben!“ und unverrichteter Dinge wieder von Dannen ziehen. Makaber und unwahrscheinlich, oder?

So ähnlich können wir uns das bei Jesus vorstellen. Er ist gerade nicht gekommen um uns zu sagen, dass wir sterben müssen, sondern dass wir leben können! Jesus wollte nicht das Ende verkündigen, sondern einen neuen Anfang setzen. Sein Auftrag war nicht, das Licht auszuknipsen, sondern selbst als Licht der Welt Menschen aus der Dunkelheit zu führen. Alles andere gehört nicht zu seinem eigentlichen Auftrag. Sicher, er hat auch klar gemacht: Wer das Licht nicht hat, der bleibt logischerweise in der Dunkelheit sitzen und er war auch nicht nur immer „lieb und kuschelig“. Doch sein Auftrag war es, Licht zu sein und das Gute zu vertreten.

Wir müssen kurz etwas einschieben: Wenn wir von einem Auftrag sprechen, dann bedeutet das, dass hinter Jesus jemand steht, der ihn geschickt hat, ein Auftraggeber. Von dem spricht Jesus und nennt ihn Vater. Und ein Auftrag sagt auch immer etwas über den Auftraggeber: Wenn der Auftrag nun ein gutes Ergebnis zum Ziel hat, dann sind doch auch die Absichten des Auftraggebers gut, dann ist er selbst doch gut, oder? Um es auf den Punkt zu bringen: Jesus ist der, an dem sich alles entscheidet. Das bedeutet nämlich, je nachdem wie ich seinen Auftrag sehe, werde ich auch über seinen Auftraggeber denken. An Jesus entscheidet sich, was ich über Gott denke.

Es gab mal eine zeitlang große Werbeplakate, auf denen konnte man in riesiger Schrift lesen: „Jesus Christus – dein Retter oder Richter!“ Jesus hat die Menschen vor eine ähnliche Alternative gestellt, und meinte es doch ganz anders. Während wohl für die meisten Zeitgenossen und gerade die Gesprächspartner von Jesus Gott eher der Richter war, den man mit Leistungen überzeugen musste, konnte man an Jesus Gott ganz anders entdecken. Er sagte ja von sich: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.“ (Joh 12,45) Das haben viele nicht verstanden. Sie haben nicht verstanden, das alles was Jesus sagt und tut dem Willen Gottes entspricht. So wie Jesus handelt und spricht, so spricht und handelt Gott. Damit sind wir beim zweiten Teil der Antwort.

Zweite Antwort: Die Ausführung

28 Deshalb sagte er zu ihnen: »Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, werdet ihr es begreifen: Ich bin der, an dem sich alles entscheidet. Dann werdet ihr auch erkennen, dass ich nichts von mir aus tue, sondern nur das sage, was der Vater mich gelehrt hat.  29 Er, der mich gesandt hat, steht mir zur Seite und lässt mich nicht allein; denn ich tue stets, was ihm gefällt.«

Hier wird es nun noch ein wenig konkreter. Und hier taucht auch der schon gehörte Spitzensatz auf: „Ich bin der, an dem sich alles entscheidet.“ Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Gute Nachricht Bibel hier recht großzügig übersetzt, was im griechischen Text mit nur zwei Worten beschrieben wird: ICH BIN. Das erinnert ein wenig daran, wie Gott sich selbst im Alten Testament vorgestellt hat: ICH BIN, DER ICH BIN. (Ex 3,14) Diese Erinnerung ist auch in gewisser Weise ganz richtig, denn Jesus sagt: „Ich tue nichts von mir aus und sage nur das, was der Vater mich gelehrt hat … ich tue stets, was ihm gefällt.“ Das bedeutet: In Jesus sehen wir, wie Gott selbst ist. In Jesus meldet Gott sich: „Ich bin’s!“ Was das heißt schauen wir uns am besten mal an einer Geschichte an, die kurz vor unserem Text erzählt wird:

Jesus war wieder einmal im Tempel und sprach mit den Leuten über das, was Gott will. Das allein ist schonmal beachtlich, denn eigentlich hatte er gar keinen Lehrer, der ihm das hätte beibringen können. (7,15) Trotzdem schien er außergewöhnlich gut bescheid zu wissen, denn „alle Leute dort versammelten sich um ihn.“ (8,2b) Plötzlich wurde eine Frau vor ihn gezerrt. „Jesus, die Frau ist gerade straffällig geworden. Sie hat Ehebruch begangen. Laut Gesetz muss sie gesteinigt werden! Was ist deine Meinung?“ Eine Fangfrage. Doch Jesus bleibt ruhig. Keine Reaktion, obwohl die Sache eigentlich völlig klar war. So, wie die Gesetzeslehrer und Pharisäer Gott und das Gesetz verstanden haben, musste die Frau gesteinigt werden. Da gab es eigentlich keine zwei Meinungen. Wer Mist baut, muss dafür bezahlen – so die einfache, vielleicht sogar logische Rechnung. Und was macht Jesus? Er macht einen Strich durch die Rechnung, indem er erstmal nichts dazu sagt. Er bückt sich und kritzelt auf dem Boden herum. (Was er wohl gemalt hat?) Aber die Leute hören nicht auf zu fragen: „Hallo? Jesus? Was ist denn jetzt mit dieser Frau?“ Irgendwann steht Jesus dann auf. Die Rechtslage war klar, auf Ehebruch stand die Todesstrafe. Doch Jesus sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen.“ Da verschwindet einer nach dem anderen, bis nur noch Jesus da ist: „Nanu, keiner mehr da der dich verurteilt? Ich verurteile dich auch nicht!“

Damit macht er einen zweiten Strich durch die Rechnung der Richter. Nach deren Logik musste die Frau gesteinigt werden. Doch Jesus durchbricht diese Logik und macht zwei Dinge deutlich: Erstens sind auch die Ankläger nicht schuldlos und noch viel wichtiger zweitens: Verurteilung ist nicht zwingend die notwendige, logische Konsequenz. Das ist ein krasser Bruch zu dem, was die Gesetzeslehrer und Pharisäer über Gott dachten, den gerechten Richter. Jesus handelte und redete anders von Gott: Gerecht ist nicht, was nach dem Gesetz richtig ist, sondern was den Menschen rettet! Das ist Gottes Gerechtigkeit. So ist Gott, deshalb handelt Jesus, der immer nur das tut, was Gott gefällt, genau so. Gott gefällt es, nicht zu verurteilen. Gott gefällt es, unerwartet freizusprechen.

Das war ein ungewohntes Bild von Gott, das Jesus da gezeichnet hat. Aber daran entscheidet sich alles: Ist Gott für mich der Richter, der nach meinen Leistungen urteilt? Doch was kann ich dann schon leisten, um dem Schöpfer der Welt zu genügen? Oder vertraue ich darauf, dass Gott sich der menschlichen Logik entzieht und mich aus Liebe unerwartet freispricht? Diesen Gott hat Jesus verkündigt, indem er seinen Auftrag in dieser Weise ausführte. Mit allem was er sagte und tat — schaut euch das mal in Ruhe in den Evangelien an. Er verurteilte nicht, (8,15) sondern sprach frei. Er zerstörte nicht, sondern heilte. Das war die Art und Weise, wie Jesus seinen Auftrag ausführte. Das war die Art und Weise, wie Gott als Mensch die Rettung der Welt durchführte.

Die Folge: Der Glaube

29b „… ich tue stets, was ihm gefällt.« 30 Als Jesus das sagte, kamen viele zum Glauben an ihn.

Viele kamen zum Glauben. Das ist es doch, was wir uns auch heute noch wünschen, gerade da wir kurz vor ProChrist stehen. Aber ehrlich gesagt, kann ich irgendwie nicht ganz nachvollziehen, dass die Leute nach dieser Rede von Jesus anfingen, an ihn zu glauben – dafür kommt mir der Text doch insgesamt zu unverständlich vor. Jesus redet ja nur über sich, dass sich an ihm alles entscheidet. Das allein finde ich noch nicht so überzeugend. Ihr werdet mir ja auch hoffentlich nicht einfach blind alles glauben was ich sage, nur weil ich hier oben stehe.

Ich denke, die Leute glaubten Jesus nicht nur wegen dieser Rede, sondern weil sie etwas erkannt hatten: Wie Jesus über Gott sprach und wie er selbst handelte, das passte zusammen. Das Gesamtpaket war überzeugend. Jesus predigte einen barmherzigen, gnädigen Gott – und er handelte auch so. An Jesus konnten die Leute sehen, wie Gott wirklich ist. Das war überzeugend, das war ihre Rettung, denn an Jesus entscheidet sich, ob wir vor einem richtenden Gott Angst haben, der verurteilt — oder ob wir einem vergebenden Gott vertrauen, der unerwartet und unverdient freispricht.

Die Frage steht auch heute noch im Raum: „Jesus? Wer bist du denn? Ein Scharlatan oder vielleicht doch derjenige, der uns den lebendigen Gott bekannt macht?“ Wenn wir das glauben, dass wir an Jesus den vergebenden Gott selbst sehen, dann ist uns der Freispruch sicher, denn wer sich Jesus zuwendet, der wendet sich dem liebenden Gott zu, der Leben schafft. Wer sich zu Jesus stellt, stellt sich unter den Schutz dessen, der Leben gibt.

Der Glaube an Jesus Christus beinhaltet auch, das weiterzugeben, was ich selbst erlebt habe – in Wort und Tat. Zum Wort gehört es, den liebenden, gnädigen, vergebenden Vater zu verkündigen, den Jesus uns gezeigt hat – zum Beispiel ab nächster Woche mit ProChrist. Zur Tat gehört es, dass Menschen das nicht nur mit dem Ohr, sondern am ganzen Leib erfahren, indem wir ihnen – soweit uns das möglich ist – begegnen, wie Jesus den Menschen begegnet ist: mit Liebe. Wenn wir Vergebung sagen aber verurteilend handeln – wer will uns dann glauben?

Jesus tat stets, was Gott gefällt. Er hat seinen Auftrag mit Leib und Seele ausgeführt. An ihm sehen wir, was Gott mit der Welt vor hat, wie Gott mit der Welt umgeht. Daran entscheidet sich alles. Muss ich versuchen einem richtenden Gott zu gefallen und werde scheitern? Oder lasse ich mir die unverdiente Vergebung des liebenden Vaters gefallen und werde leben? Die Frage müssen wir uns immer wieder stellen:

„Jesus? Wer bist du denn?“

Wie Thomas, der Zweifler, möchte ich antworten:

„Mein Herr und mein Gott!“

(Joh 20,28)

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