»Den Wald vor lauter Bäumen sehen« – wenn Gott zur Welt kommt …

Im Moment ist wohl Zeit für das Lukasevangelium. Am 2. Advent habe ich über das Kommen Gottes nach Lukas 21,25–33 gepredigt. 

Den Wald vor lauter Bäumen sehen.

Liebe Gemeinde,

normalerweise sollte der jährliche Advent ja Zeit zur Besinnung bieten, ein wenig Ruhe – und wenn ich ehrlich bin, am liebsten auch ein bisschen „Friede, Freude, Weihnachtsplätzchen“. Dass wir aber selbst an den feierlichsten Dezembertagen nicht aus dem Lauf der Welt herausgenommen sind, daran erinnert unser heutiger Text aus dem Neuen Testament. Er spricht nicht von dem unscheinbaren Kommen des weihnachtlichen „holden Knaben mit lockigem Haar“, sondern vom offenbaren Kommen des Christus – vom Kommen Gottes, das wir erwarten. Ich lese Lk 21,25–33 nach einer eigenen Übersetzung.

25 »Und an Sonne, Mond und Sternen werden Zeichen auftreten, auf der Erde wird eine ‚beklemmende‘ Ratlosigkeit unter den Völkern herrschen [wegen der] Geräusche des Meeres und der Erschütterung, 26 sodass die Menschen die Besinnung verlieren, aus Angst und vor der Erwartung dessen, was den Erdkreis überkommt – denn „die Mächte der Himmel“ werden erschüttert. 

27 Dann werden sie den Menschensohn sehen, wie er in einer Wolke kommt mit Macht und großer Herrlichkeit. 28 Wenn nun diese Dinge zu geschehen beginnen, dann richtet euch auf und hebt eure Köpfe, denn es naht eure Erlösung!« 

29 Und er erzählte ihnen ein Gleichnis: »Seht den Feigenbaum und alle Bäume: 30 Wenn sie schon ausschlagen, dann erkennt ihr von selbst – indem ihr sie [bloß] anseht – dass der Sommer schon nah ist. 31 So auch ihr: wenn ihr dies geschehen seht, dann sollt ihr erkennen, dass die Königsherrschaft Gottes nah ist. 

32 Wahrlich, ich sage euch: Auf keinen Fall wird diese Art von Zeitgenossen vergehen, bis all dies geschieht. 33 Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden auf keinen Fall vergehen.« 

— I —

(V25f) Solche Texte regen die Fantasie an. Das haben sie vermutlich schon immer getan. Und wenn man sich diesen Text etwas genauer anschaut, dann ist das auch nicht verwunderlich. Lukas beschränkt sich nämlich auf Andeutungen. Ihm kommt es nicht darauf an, was genau die Zeichen sind (die Paralleltexte Mk 13 und Mt 24 malen das viel bunter aus). Es muss reichen, dass Himmel und Erde durcheinander geraten – dass die Welt aus den Fugen gerät. Und das ist keine Erscheinung einer bestimmten Zeit, sondern offensichtlich ist Lukas sich bewusst, dass das auf alle Zeiten zutrifft: Ständig gerät irgendetwas durcheinander. Für den antiken Menschen waren die Naturgewalten eben in dieser Hinsicht am anschaulichsten. Eine Sonnen- oder Mondfinsternis etwa (so Mk 13 und Mt 24) hat für uns heute den Schrecken des Chaos verloren. Im Gegenteil: Weil wir wissen, wann es wieder soweit ist, sind sie uns vielmehr Zeichen einer bestimmten Ordnung im Universum. Die modernen Naturwissenschaften können heute sehr genau beschreiben, wie Sonnen, Monde und Sterne entstanden sind und funktionieren. Wir werden zwar immer darüber staunen können, aber wir durchschauen das doch schon ganz gut. Man kann dieses Bild also nicht so einfach auf unsere Gegenwart übertragen.

Etwas einfacher ist das beim zweiten Bild vom Meer. Wenn ich heute an das Meer denke, dann denke ich an Sonne, Strand und Urlaub. Für die antiken Leserinnen und Leser dagegen weckt der Gedanke an das Meer in der Regel keine so angenehmen Erinnerungen oder freudige Erwartungen. Nein, dem Meer ist man schutzlos ausgeliefert: Wenn es aufbraust und über die Ufer tritt, die eigene Lebensgrundlage zerstört. Das wiederum wird uns verständlich. Aus der eigenen Erfahrung, die man auch in Bischoffen schon gemacht hat, oder aus der Fremderfahrung, wie sie in regelmäßig scheinenden Abständen die Menschen an den Ufern der Elbe machen. Ganz zu schweigen von den noch erschreckenderen Flutkatastrophen, die wir über die Medien aus der ganzen Welt mitverfolgen können. Ich schaue mir das entsetzt (und vielleicht auch ein wenig sensationslustig …) an und denke mir: „Nein, so soll es nicht sein.“

Das mag uns noch einigermaßen fern bleiben, solange wir weit genug weg sind. Aber die Fluten schwappen schnell ins eigene Wohnzimmer. Gerade lief noch alles so gut. Doch vielleicht hört man schon von weitem die Geräusche der Wellen – wie auch immer sie heißen mögen: Insolvenz und Wirtschaftskrise? Versetzungsgefährdung? — Scheidung? — Krankheit? —— Wie heißt die Welle, die gerade auf dich zukommt?

Vielleicht wird das eigene Leben auch von einem auf den anderen Tag erschüttert. Du hast nichts kommen sehen und vielleicht gedacht, es wird doch schon alles so gut weiterlaufen. Und dann plötzlich: Rumms – es kracht. Vielleicht ist es ein Unfall. Vielleicht eine Entlassung. Vielleicht aber auch der viel zu frühe Tod eines geliebten Menschen. Und dann? Dann ist nicht mehr „alles in Ordnung“, sondern die Mächte der Himmel kommen durcheinander. Ein starkes Bild, wie ich finde. Chaos von Kopf bis Fuß. Man sieht plötzlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Das kann mein eigenes Leben ganz schön erschüttern, mich völlig aus der Bahn werfen – für den Moment, für ein paar Monate, im schlimmsten Fall vielleicht auch für ein ganzes Leben. Es hinterlässt Spuren an mir und an meinem Vertrauen in den Lauf der Welt.

Unser Text scheint ein Gespür für solche Situationen zu haben. Er malt gerade nicht das chaotische Stottern der Welt aus, sondern lenkt den Blick auf das, was die eigentliche Katastrophe ausmacht: die Ohnmacht. Eine Betroffenheit bis zur Besinnungslosigkeit, die mich vor Angst lähmt. Oder provoziert. Weil ich nichts tun kann. Ratlosigkeit macht sich breit – was soll jetzt passieren? Nicht nur für den augenblicklichen Moment steckt da etwas im Rad der Welt, sondern irgendwie verschwimmt auch die Zukunft. Was eben noch lief wie geschmiert, gerät im Großen und im Ganzen ins Stottern. „Die Mächte der Himmel“ werden erschüttert. Meine ganze Welt, das ganze System und ja: auch die Natur scheint völlig außer Rand und Band. — Und du mittendrin.

— II —

(V27f) Mitten in dieses universale Chaos hinein spricht Jesus vom Kommen eines Menschen – vom Kommen Gottes. Die Kunstgeschichte ist immer schon gut darin gewesen, solche Bilder wie das vom wolkenreitenden „Menschensohn“ im wahrsten Sinne auszumalen und so unsere Vorstellungen zu prägen, so etwa Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Aber es bleibt ein Bild, eine Metapher, ein Symbol. Es bleibt Beschreibung eines Vorgangs, für den uns grundsätzlich die Sprache fehlt, oder besser gesagt: Bilder und Metaphern sind unsere Sprache für das Göttliche – eine andere haben wir nicht. Es wäre nur allzu tragisch, wenn das Kommen des Höchsten sich mit unseren flachen Worten und Farben exakt aussagen ließe …

Das „Sehen des Menschensohns“ ist Begegnung mit dem auferweckten Jesus Christus. Mehr noch: Unser Text macht hier neugierig auf die ungebrochene Begegnung mit Gott. Das Chaos in der Welt und im eigenen Leben ist nicht zuletzt ein Hinweis darauf, dass Gott eben in unserer Welt nicht einfach offensichtlich ist, sondern verdeckt – vom Kreuz. Das ist eigentlich irrsinnig. Aber auch im Advent sollten wir uns klar machen, dass uns Gott ausschließlich unter den Bedingungen dieser Welt begegnet – oder genauer: unter den Bedingungen des Kreuzes, d.h. im Leiden – indem er uns tröstet. In der Gebrochenheit – indem er uns heilt. In der Gefangenheit – indem er uns frei macht.

Die christliche Hoffnung ist, dass wir das schon heute erleben können, indem wir unsere Augen aufmachen und anfangen, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen. Das große Ganze im Unscheinbaren entdecken unter den Trümmern unserer ganz persönlichen Flutkatastrophen, etwa wenn Menschen für uns da sind. Wir haben es als Familie im letzten Advent erlebt, wie Menschen für uns da waren in den dunkelsten Stunden unseres bisherigen Lebens, als uns das Wasser nicht nur bis zum Hals stand. Den Wald vor lauter Bäumen sehen, das kann eine Hoffnung sein, die aufkeimt oder zu erleben, wie sich eine Situation unerwartet zum Guten wendet. Aber auch unter den Trümmern einer kaputten, einer leidenden Welt um uns herum finden wir Zeichen für Gottes Kommen. Wenn Deiche doch noch halten und sich trotz Schrecken auch Gutes zeigt. Wenn etwa tausende Helfer in Katastrophengebieten aufbauen, aufräumen, trösten und heilen. Wir glauben, dass Gott schon auf dem Weg ist.

www.youtube.com/watch?v=AJtQIyiFtVM

Die christliche Hoffnung ist aber auch – und davon spricht unser Text im Besonderen –, dass Gott seine Begegnung mit uns vollenden wird. Dass sie einmal nicht mehr unter dem Vorzeichen des Kreuzes steht, sondern im Licht der Auferweckung völlig sichtbar wird. In Macht und großer Herrlichkeit. Zu unserer Erlösung. Das zu wissen gibt uns die Möglichkeit, aufrecht zu gehen. Wir brauchen uns nicht vor Gott wegzuducken, sondern können den Kopf heben – auch wenn es manchmal schwer ist – und der Begegnung mit Gott ohne Angst entgegenblicken, weil sie Erlösung bringt. Wir hoffen, dass Gott endgültig ankommt.

— III —

(V29–31) Jesus verdeutlicht sein Anliegen, indem er das Kommen Gottes mit den Bäumen vergleicht. Es geht hier – wie im ganzen Text – natürlich nicht darum, den Zeitpunkt von Gottes Ankunft genauer zu bestimmen. Den kannte Jesus nicht und erst recht nicht Lukas, den interessierte das auch gar nicht (vgl. Mt 24,36 und Apg 1,7). Vielmehr will er darauf aufmerksam machen, wie man mit der Gegenwart umgeht. Das Baumgleichnis macht deutlich: Es geht nicht um irgendein „Wann“, sondern es geht darum, das „Dass“ des Kommens Gottes zu erkennen – und zwar trotz des Chaos. Die Zuhörer von Jesus sollen erkennen, dass das Weltchaos nicht ein schreckliches Ende einläutet, wie es in manchen – auch christlichen – Endzeitfantasien ausgemalt ist. Erst recht deutet Lukas die Zeichen hier nicht als irgendeine Art von Strafe. Nein, er deutet sie als das Kommen Gottes zur endgültigen Erlösung. Das müssten diejenigen, die Jesus bisher zugehört hatten, eigentlich „wie von selbst“ erkennen. So wie man an den ersten Knospen und Blättern der Bäume den kommenden Sommer erkennt, ohne erst umständlich fragen oder bei Wikipedia nachschlagen zu müssen, was das denn wohl heißen mag – so sollen auch Jesu Zuhörerinnen und Zuhörer am Weltchaos erkennen, dass Gott kommt.

Doch die Erkenntnis ist paradox. Und ich bin mir unsicher, ob man dieses Paradoxe sinnvoll auflösen kann. Unser Text bietet uns an, die katastrophalen Erfahrungen unserer großen Welt und unserer kleinen, ganz persönlichen Welt in ein größeres Ganzes einzuordnen: in das Kommen Gottes. Wenn Gott in Herrlichkeit zur Welt kommt – und das ist heute am zweiten Advent gerade etwas anderes, als das versteckte Kommen im Menschlein Jesus – dann geht das nicht ohne Reibung zu, sonst wäre es nicht Gott, was da kommt. Gott und Welt passen eben nicht „einfach so“ zusammen, es ist mit Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen zu rechen. Solange wir in dieser Welt leben, gibt es Widerstände und Gegensätze.

So richtig das auch klingt – ganz unproblematisch ist das nicht. Denn das darf nicht dazu führen dass man meint, in Naturkatastrophen irgendwelche Strafaktionen Gottes erkennen zu können. Um Gottes willen nicht!!! Und es geht auch nicht darum, einfach allem einen Sinn beizulegen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Sinnloses in unserer Welt gibt. Ereignisse, die kein Mensch braucht. Der Text sagt uns nicht: „Wer weiß, wofür es gut war“ oder: „Es hat schon alles irgendeinen Sinn“. Das glaube ich nicht. Das will ich auch nicht glauben. Welchen Sinn soll es haben, dass Tausende auf unserer Welt unter Hunger leiden? Welchen Sinn soll es haben, dass Hunderte vom Wasser überrollt werden? Welchen Sinn soll es haben, wenn auch nur ein Kind stirbt?

Vom Kommen Gottes zu reden heißt, von Hoffnung zu reden: Dass ich das Gute trotz aller Katastrophen erleben kann und dass die göttliche Liebe sich letztlich gegen das Chaos durchsetzt. Es heißt nicht, dass ich irgendwann den Sinn von allem erkenne, sondern dass die Sinnlosigkeiten der Welt überwunden werden, wenn Gott kommt. Über Gottes Kommen zu reden heißt, über die Erlösung vom Weltchaos zu reden. Da, wo es schon heute sichtbar wird, aber auch da, wo wir noch auf die Vollendung hoffen dürfen und bis dahin nicht viel mehr tun können als fehlend zu bitten: „Dein Reich komme!“ (Mt 6,10)

– IV –

(V32f) Dass es kommt, sollten die Kennerinnen und Kenner der Botschaft von Jesus „wie von selbst“ wissen und sie sollten das Durcheinander der Welt als Hinweis auf Gottes Kommen zur Erlösung verstehen. Doch macht Jesus in unserem Text ebenso deutlich: Das versteht sich irgendwie doch nicht von selbst. Denn bis Gottes Ankunft (sein „Advent“) vollendet ist, wird es immer auch solche geben, die es anders sehen. Solche, die Gottes Kommen nicht erkennen. Ich will es einmal mit meinen Worten versuchen: Es wird immer solche geben, die das Kommen Gottes nicht als den schmerzhaften Protest gegen das Chaos ansehen, der dieses Kommen im Wesentlichen ist: Es ist Erlösung! Von vielen Seiten wird man anderes behaupten, etwa: Gott käme gar nicht. Oder noch schlimmer: Gott käme zur Strafe. Wer die Zeichen der Zeit nicht als Zeichen des Kommens Gottes sehen kann, der ist doch schon gestraft genug, weil sie oder er sich selbst davon ausschließt, jetzt schon das Kommen Gottes zu erleben – die nahende Erlösung zu erfahren.

„Himmel und Erde werden vergehen.“ Sie tun es schon. Sie haben es schon immer getan. Und sie werden es wohl auch noch mindestens eine ganze Weile tun. Der Satz ist keine naturwissenschaftliche These, als würden einfach irgendwann die Lichter auf der Erde ausgemacht werden – was allerdings gar nicht so unwahrscheinlich zu sein scheint, wenn wir weiter so mit ihr umgehen, wie wir es im Moment tun. Der Satz ist vielmehr das Fazit: Ihr seht doch, dass die Welt ständig durcheinander gerät, dass nichts in ihr wirklich Bestand hat. Was trotz allem und in allem bleibt, sind die Worte von Jesus. Was bleibt, ist das, was kommt. Das, was in Jesus schon gekommen ist. Was bleibt, ist Gott, wie Jesus ihn uns bekannt gemacht hat: Als das, was Gerechtigkeit für die schafft, denen Unrecht widerfährt. Als den, der Vergebung für die ermöglicht, die schuldig geworden sind. Als die Heilung für solche, die unter den Sinnlosigkeiten der Welt leiden. Und auch: als Erlösung für uns, die wir mitten im Durcheinander der Welt gefangen sind. Das und mehr ist es, was Bestand hat, weil es das Chaos nicht nur überdauert, sondern überwindet – darauf hoffen und vertrauen wir. Dass die Vergebung vom Streit erlöst. Dass die Liebe den Hass beruhigt. Dass Heilung von Krankheit erfahren wird. Wir hoffen, dass all das Gute davon erlöst wird, immer nur in seinem Gegenteil erfahren zu werden. Dann – spätestens wenn dein Himmel und deine Erde vergangen sind – wird Gott endlich bei dir angekommen sein.

— Schluss —

Advent ist die jährliche Erinnerung an das Kommen Gottes. Nicht nur Erinnerung an das gelockte Menschlein im Fressnapf. Wir denken nicht nur (!) an etwas Vergangenes, sondern wir hoffen auf etwas Zukünftiges, das mitten im Jetzt schon anfängt. Und wir dürfen es freudig erwarten, weil es zu unserer Erlösung geschieht. Kannst du es sehen?

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