Bei dieser Rezension bedarf es einer Vorklärung: Das Buch „Warum ich nicht mehr glaube“ hat mich zugleich betroffen und sensibel gemacht von einem bzw. für ein Thema, das hohe Brisanz in sich trägt und vermutlich einige („christliche“) Leser irritieren wird.
Was führt dazu, dass Menschen nicht mehr glauben? Dieser Frage geht das Autorentrio in einer wissenschaftlich fundierten Untersuchung nach ohne dabei in unverständlichen Fachjargon abzudriften. Im ersten Kapitel stellen die Autoren ihre Motivation für die Untersuchung dar und geben einen Überblick über das bisher wenig erforschte Thema. Erfreulicherweise geht es den Autoren nicht darum, anhand der Erkenntnisse eine neue Missionsstrategie zu entwickeln, wie die Dekonvertiten (Dekonversion meint das Gegenteil von Bekehrung. Am sinnvollsten lässt es sich mit „Verlust des Glaubens“ beschreiben.) möglichst schnell wieder in die Kirche gehen, sondern sie wollen das Thema und die Geschichten aufnehmen, ernst nehmen und überlegen, was sie daraus lernen können.
Bisher gibt es nur wenige Untersuchungen zu diesem Thema. Diese wenigen werden aber dargestellt, analysiert und weiter hinten im Buch anhand der gewonnen Erkenntnisse reflektiert. So werden zum Beispiel fünf Aspekte aufgeführt, die für eine Dekonversion grundlegend erscheinen: intellektueller Zweifel, Ausstieg aus einer religiösen Gruppe oder Gemeinschaft, moralische Kritik an dieser Gruppe und deren Lebensweise, emotionales Leiden und der Verlust religiöser Erfahrungen (S. 12f).
Der Betrachtungsgegenstand dieser Untersuchung wird im Vorhinein reflektiert. Zurecht schließen die Autoren aus, dass sie – wenn sie von Glauben reden – das Handeln Gottes am Menschen in irgendeiner Weise bestimmen oder beschreiben können. Das, was der Untersuchung zugrunde liegt, sind die Deutungen und Erfahrungen einzelner Menschen. Nur diese können Betrachtungsgegenstand sein, nicht aber der „Glaube an Sich“.
Im Zentrum der Untersuchung stehen acht Lebensgeschichten (S. 66–124), die anhand von qualitativen Interviews mit den betreffenden Personen untersucht wurden. Diese Lebensgeschichten sind es, die den Leser betroffen werden lassen und manchmal auch im Scham enden. Aus diesen Lebensgeschichten leiten die Autoren vier grundlegende Motive ab, die für sie bei der Frage nach den Gründen für eine Dekonversion zentral sind. Diese Motive (Moral, Intellekt, Identität und Gottesbeziehung) werden anhand der acht Lebensgeschichten jeweils in zwei Aspekten ausdifferenziert. Diese Vorgehensweise bietet dem Leser das Potential, von einer bewegenden Geschichte ergriffen zu werden und gleichzeitig systematisch Kriterien für eine Dekonversion abzuleiten.
In der Reflexion auf diese Lebensgeschichten und der Kriterien legen die Autoren Wert darauf, dass es für eine Dekonversion weder notwendige Kriterien geben kann noch je nur einzelne Kriterien ausschlaggebend sind. Die Lebensgeschichten verdeutlichen, dass für eine Dekonversion biographisch-individuelle Aspekte zentral sind und soziologische, intellektuelle und emotionale und Gründe miteinander korrespondieren.
Besonders hervorzuheben ist das Kapitel über Denkanstöße für Christen und Gemeinden (S. 173–212). Hier werden die Themen, die sich in den Lebensgeschichten angedeutet haben, pointiert auf den Punkt gebracht und Anregungen für Christen und Gemeinden gegeben. Beachtung dabei verdient der sensible Ton, den die Autoren bei „heißen Eisen“, wie z.B. den Umgang mit Macht und Missbrauch, treffen und gleichzeitig nicht verschleiern, dass es in vielen Gemeinden zu ungesunden Formen der Kommunikation, Machtausübung oder gelebten Glaubens kommt. Abgeschlossen wird dieses Kapitel von zehn Anregungsfragen, die den Leser vor die Aufgabe stellen, sich selbst und seine Gemeinde zu reflektieren.
Positiv zu würdigen ist ebenfalls die Transparenz in Bezug zur Methodik. Die Untersuchung, auf der das Buch aufbaut, wurde von dem Forschungsinstitut für Jugendkultur und Religion „empirica“ durchgeführt. Im Anhang legen die Autoren Rechenschaft ab, welche Methoden zur empirischen und qualitativen Forschung ihrer Untersuchungen zugrunde liegen. Außerdem befinden sich dort der Fragebogen, der im Vorfeld für eine Online-Befragung verwendet wurde, sowie der Leitfaden für die qualitativen Interviews.
Die Verfasser schaffen es, dem Leser die Methoden und Erträge der empirischen Theologie plausibel und nachvollziehbar zu machen. Die empirische Theologie erweist sich in diesem Buch als außerordentlich hilfreiche Herangehensweise an ein Phänomen, das oft mit (Vor-)Urteilen belastet ist.
Lediglich beim abschließenden Drucksatz wäre noch ein wenig mehr Sorgfalt geboten. So verschieben sich leider zum Teil die werkimmanenten Querverweise um eine Seite (z.B. die auf Seite 49)
Alles in Allem ist dieses Buch ein wichtiger Schritt in der Erforschung und im Umgang mit Dekonversionen im deutschsprachigen Raum. Die Leser werden für dieses Thema sensibilisiert, es werden Vorurteile abgebaut und es wird ein Bewusstsein für einen wertschätzenden Umgang mit Menschen geschaffen, die sich zu einer Dekonversion entschließen.
Mein Dank gilt dem SCM-Brockhaus-Verlag, der freundlicherweise für eine Rezension in der dran-next 04/2014 eine Exemplar des Buches zur Verfügung gestellt hat.
Wirf mal Thesen aufgrund der vier Kriterien (Moral, Intellekt, Identität, Gottesbeziehung) in den Raum, jeweils in einem Satz: Was machen die (Christen in den) Gemeinden „falsch“?
Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber ich fange mal allein auf Grundlage der Begriffe an (bitte als Thesen lesen, nicht als Pauschalurteile!):
1) Glaube wird mit Moral verwechselt.
2) Glaube wird mit einer Wissenschaft/Weltanschauung verwechselt.
3) Gemeinden wissen nicht so recht, wer sie sind und was sie tun (sollen).
4) Gemeinden schaffen es nicht, glaubhaft und überzeugend zu vermitteln, was Gottesbeziehung bedeutet und wie sie gestaltet werden kann.
Zu 1) Es werden moralische Gebote aufgestellt, die von den Aufstellern selbst nicht gehalten werden und/oder nicht dem Evangelium von Jesus Christus entsprechen
Zu 2) Diese Verwechslung findet statt, wird aber von Gemeinden nicht aufgelöst.
Zu 3) Wenn es zur Dekonversion kommt, ist es vorher nicht dazu gekommen, dass der Glaube in die Identität der Person übergangen ist oder es nicht zur Ausbildung eines „erwachsenen“ Glauben gekommen ist.
Zu 4) Es kommt zu der Erfahrung, dass die Wirklichkeit nicht mit dem Gottesbild übereinstimmt, das vermittelt und aufgenommen wurde.
5) Glaube und Religiösität wird offensichtlich und traurigerweise nur institutionell und nicht als anthropologische Konstante begriffen.Letztlich geht es doch nicht darum, die im Titel implementierte Frage » Warum glaube ich nicht mehr« zu klären, als das vielmehr der Versuch unternommen wird, zu untersuchen, was Menschen zu Dekonversion motiviert.