Kindschaftstest. Geschwister, Glaube und die große Liebe

Die folgende Predigt richtet sich nach der Perikopenordnung für Jubilate 2016, auch wenn das Proprium des Sonntags nicht direkt aufgegriffen wird. Sie kann hier als MP3 heruntergeladen und angehört werden.

Als ich noch in der Werbung gearbeitet habe, hatten wir in der Agentur einen Kunden aus einem mehr oder weniger boomenden Gewerbe: Vaterschaftstests. Die entsprechende Firma bietet darüber hinaus auch Geschwistertests an. Warum es keine standardmäßigen Mutterschaftstests gibt liegt einigermaßen auf der Hand. J Jedenfalls ist das (soweit ich das von damals her einschätzen kann) ein relativ großer und hart umkämpfter Markt.

Ich will das nicht weiter ausführen. Wenn ich das aber einmal versuche zu deuten, dann würde ich sagen: Offenbar gibt es einen Bedarf nach Herkunft. Menschen wollen wissen, woher oder besser: von wem sie abstammen. Woher die biologische Soft- und Hardware kommt, mit der sie „laufen“. Mit wem sie aufs Engste biologisch verbunden sind – wer ihre Geschwister sind. Und in einer sehr naturwissenschaftlich geprägten Gesellschaft ist natürlicherweise ein wissenschaftlicher Test ein verlässlicher Marker.

Unser heutiger Bibeltext greift etwas davon als Metapher auf, um über die „DNA“ von Christenmenschen nachzudenken.

Predigttext: 1Joh 5,1–4

1 Jeder [Mensch], der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott hervorgegangen. Und jeder [Mensch], der den liebt, der [sie*ihn] hervorgebracht hat, liebt auch den [Menschen], der aus ihm hervorgegangen ist.

2 Daran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und nach seinen Weisungen handeln.

3 Denn darin besteht die Liebe Gottes, dass wir seine Weisungen bewahren – seine Weisungen sind nicht schwer!

4 Denn: Alles, was aus Gott hervorgegangen ist, überwindet die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: Unser Glaube.

 

Wir gehen Schritt für Schritt entlang. Der Text ist auf den ersten Blick sehr theoretisch. Aber jede Theorie ist letztlich der Versuch, eine vernünftige Praxis angemessen zu beschreiben. Mal sehen, ob wir heute morgen beides ein wenig zusammenbekommen.

 

***

1 Jeder [Mensch], der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott hervorgegangen.

Der erste Johannesbrief ist nicht zimperlich mit absoluten Aussagen. Wir sind da heute zu Recht sehr skeptisch, wenn jemand daher kommt und behauptet: „So und so ist es!“ Kein Wunder, dass zum Unwort des Jahres 2010 —> „alternativlos“ gewählt wurde. Die allerwenigsten Dinge sind alternativlos. Stoffwechsel und der Tod vielleicht. Eher nur der Tod. Danach wird vieles relativ. Um nicht zu sagen: alles.

Das kümmert den Autor des ersten Johannesbriefes wenig. Schon im Kapitel vorher legt er sich bei einem inhaltlich heiklen Thema ziemlich fest und sagt zweimal klipp und klar: „Gott ist Liebe!“[1] — Punkt. Das muss man mal so stehen lassen und sich bewusst machen, was jedes „Aber“ dahinter für Auswirkungen hat.

Nun gut – hier haben wir es ebenso klar vor uns: Ob jemand aus Gott hervorgegangen ist – wie von einer Mutter geboren oder wie von einem Vater gezeugt – entscheidet sich am Glauben an Jesus als den Christus.

Daran fallen schon zwei Dinge auf. Erstens: Denk mal ein paar Jahre zurück, an den Zeitpunkt, als du dich bewusst entschieden hast, gezeugt oder geboren zu werden. Was war das für ein Gefühl? Was hat dich zu dieser Entscheidung bewogen? Welche Gründe sprachen dafür oder dagegen? — Du merkst vermutlich: das ist albern. Benutzt unser Text dieses Bild hier bewusst? Ich denke schon. Zu glauben ist dann wie geboren oder gezeugt werden. Außerhalb meiner Entscheidungsreichweite und doch dann auch der Grund für viele meiner Entscheidungen.

Ein Zweites fällt auf: Einzig und allein der Glaube an Jesus als den Christus ist hier der entscheidende Marker für diesen christlichen Vaterschaftstest – oder besser: Kindschaftstest. Das bedeutet für mich inhaltlich: Der Glaube, dass an Jesus die Liebe Gottes über alle Maßen klar und sichtbar wird. Dass genau dieses Leben Gott mitten in der Welt anschaulich macht. Dass dieses Leben als göttliches Leben bestätigt wird – das meint letztlich die Auszeichnung „Christus“ – der von Gott bestätigte, der „Gesalbte“. Das folgende ist zwar möglicherweise missverständlich, aber ich sage es trotzdem mal (und vermutlich noch öfter): Ich glaube nicht an die Bibel. Ich glaube nicht an die Schöpfung. Ich glaube nicht an die ausschließliche Ehe von Mann und Frau. Das alles sind wichtige Fragen, ja, aber keine glaubensentscheidenden Fragen! Wirklich nicht. Ob du zu Gott gehörst, aus Gott „hervorgegangen“, entscheidet sich nicht an deiner Art und Weise die Bibel zu lesen. Es entscheidet sich nicht an deiner Sichtweise auf die Entstehung der Welt. Es entscheidet sich nicht an deiner Einstellung zur „Ehe für alle“. Sondern an Jesus als dem Christus.

Das ist eine wunderschöne Formel – wenn man sie denn für sich versteht und noch wichtiger: mit Leben füllt. Und genau das versucht dieser Text, nachdem die Formel aufgestellt ist:

 

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Und jeder [Mensch], der den liebt, der [sie*ihn] hervorgebracht hat, liebt auch den [Menschen], der aus ihm hervorgegangen ist. 2 Daran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und nach seinen Weisungen handeln. 3 Denn darin besteht die Liebe Gottes, dass wir seine Weisungen bewahren

Hier beißt die Katze sich nun selbst in den Schwanz. Aber gerade das macht es interessant. Ich sage mal in aller Kürze, was hier steht: Die Liebe zu unseren Glaubensgeschwistern zeigt sich in der Liebe zu Gott, d. h. im Halten seiner Gebote. Soweit, so gut. Das Problem ist nur: Das Gebot Gottes ist in der johanneischen Theologie die Geschwisterliebe! Also, runtergebrochen lesen wir hier: Dass du deine Glaubensgeschwister liebst, erkennst du daran, dass du deine Glaubensgeschwister liebst. Äh, ja.

Etwas sinniger wird es aus meiner Sicht, wenn man anders herangeht. Wenn beide Beschreibungen – Geschwisterliebe und Gottesliebe – ja dann letztlich auf dasselbe hinauslaufen, nämlich die Liebe zu den Leuten in meiner und der weltweiten Gemeinde, dann könnte das doch heißen: In der Geschwisterliebe liegt die Gottesliebe. Der Unterschied zwischen Gemeinde und Verein liegt dann darin, genau das zu erkennen. Dass in der Liebe zu den Menschen in meiner nächsten Umgebung Gott aufleuchtet, als die Macht, von der wir glauben, dass sie die Welt in den Angeln hält.

Der Sache nach ist das nichts Neues, würde ich sagen.[2] Auch Menschen außerhalb der Gemeinde lieben ihre Gleichgesinnten. Die Vereinskameraden, die Parteigenossinnen, die Greenpeacekollegen. Im  Einsatz füreinander dürfte sich da relativ wenig unterscheiden. Der Unterschied besteht aber darin, dass wir unser Zusammensein unter ein ganz anderes Licht stellen! Für Christinnen und Christen ist diese Gemeinschaft der Gemeinde ein Geschenk Gottes! Wir erwarten und erleben hier etwas, das ein „normales“ Zusammensein übersteig, weil wir merken, dass das Geheimnis der Welt ganz nah an uns heranrückt.

Manchmal. Ich weiß auch, dass Gemeinde manchmal nervt. Sie sich nicht viel vom Vereinstreiben unterscheidet. Aber deswegen feiern wir Gottesdienste, weil wir Gott als das Geheimnis unseres gemeinsamen Lebens wahrnehmen wollen. Sehen lernen wollen. Und uns manchmal sehnsüchtig und verletzt danach ausstrecken, wenn wir etwa beten: „Dein Reich komme!“

Und ich glaube, es kommt da, wo Geschwister einander in Liebe begegnen. Mit Geschwistern meine ich Menschen, die sich gemeinsam und in einer Weise, wie Jesus es getan hat, auf Gott als Vater oder Mutter ausrichten. Man hört das gern als Aufforderung, Herausforderung oder gar Überforderung. Aber es geht auch als Zusage Gottes: Hey, schau doch mal wie ruhig ihr bei der letzten Gemeindeversammlung miteinander diskutiert habt – war das nicht ein bisschen paradiesisch? Guck doch mal, wie engagiert die Geschwister deine angesabberte Kaffeetasse spülen – ist das nicht ein Stückchen himmlisch? Erinnere dich doch mal daran, wie Menschen aus der Gemeinde dich vor Freude oder Mitleid in den Arm genommen haben – kommt Gott da nicht ein Stück näher an dein Herz heran?

Vieles ist uns so selbstverständlich. Die Geschwisterliebe als Gottesliebe zu deuten heißt aber, das Selbstverständliche eben nicht als selbstverständlich anzusehen, sondern als etwas, in dem die mächtigste Kraft der Welt wirksam und spürbar wird: Gott.

 

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(3b) … seine Weisungen sind nicht schwer!

Wenn ich das so lese, kommt mir das relativ weltfremd vor. Zumindest wäre es so, wenn ich den Text bisher als Anspruch gelesen hätte. Aber meine Behauptung war ja, dass es auch als Zuspruch geht. Und tatsächlich geht es ja wie folgt weiter:

 

4 Denn: Alles, was aus Gott hervorgegangen ist, überwindet die Welt. Und das ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: Unser Glaube.

 

Ich sag es mal ganz unseelsorgerlich: Es geht hier gar nicht um dich! Oder lieber etwas besser: Es geht nie zuerst um das, was du tun sollst. Sondern zuerst um Gott. Darum, wie Gott in deinem Leben für dich sichtbar wird. Es geht darum zu zeigen, dass es nicht in deiner und nicht in meiner Hand liegt, dass Gottes Reich kommt, dass ‚Gott’ geschieht, oder wie immer man es sagen will. Sondern wenn ich hier vom Sieg lese, der schon geschehen ist!, dann geht es doch vielleicht einfach zuerst einmal darum, wahrzunehmen. Zu bemerken, was um uns herum passiert. Zu entdecken, wo Gott etwas „tut“. Das nenne ich Glaube und denke (und hoffe), dass ich damit gar nicht so weit vom Text weg bin.

Wir haben am letzten Sonntag in der Gemeindeversammlung drüber diskutiert, was dieser Glaube ist und beinhaltet. Das wäre jetzt mal mein erster Vorschlag. Und vom Text her geht es dann weiter: Glaube könnte doch sein, Gott in der Gemeinde unter den Geschwistern zu entdecken. In der Liebe, die in Gemeinde spürbar wird. Hier und da. Oder wenigstens vermisst wird, weil wir eine Ahnung davon bekommen, was diese Kraft Gottes zu leisten imstande ist. Denken wir allein an Ostern und die Geschichte davon, dass diese Liebeskraft Tote auferweckt!

Das ganze wäre nun aber zu kurz gedacht, wenn wir es allein dabei belassen. Wahrnehmen, abnicken, weitermachen – klappt das? Reicht uns das? Mir nicht. Wenn wir die Nähe dieser Gotteskraft nun schon wahrgenommen und so nah an uns erfahren haben, dann – glaube ich – macht das etwas mit uns. Es kann uns anziehen, uns mitreißen wie ein Strudel, immer näher ins Zentrum dieser Liebe. Wir werden angesteckt und geben unseren Gemeindegeschwistern doch gerne die Liebe weiter, die bei uns brennt. Sie wird ganz aktiv. Nicht aus Zwang. Nicht nach Vorschrift. Sondern weil es dieser Kraft selbst entspricht. Liebe gibt es immer nur für mindestens eine Person mehr als mich (was mich natürlich nicht ausschließt!), Liebe gibt es immer nur für jemanden, für andere. Und deshalb kann sie überfließen. Ich sage bewusst: kann. Denn das ist kein Automatismus. Und wir erleben oft genug, dass das nicht passiert. Ich am ehesten an mir selbst. Da wird dann der Glaube an die Liebe zur Hoffnung auf Liebe. Dass ich liebe, dass ich geliebt werde. Dass Gottes Reich komme.

All das macht uns zu Geschwistern. Weil wir in unserer je eigenen Weise an dieser Liebe hängen, von diesem Gott abhängen – im Bild gesprochen: von dieser Mutter oder diesem Vater „abstammen“. Und da zieht es uns immer wieder hin. Zu unseren Wurzeln, unserer Herkunft.

Dann kann ich diese Erfahrung wunderbar teilen, dass Menschen sich nach Herkunft sehnen, wie ich es dem großen Markt von Vaterschafts- und Geschwistertests unterstellt habe. Aber nicht nur, um etwas zu wissen, sondern um ganz nah dran zu sein an dem, was mich ausmacht. Was dich ausmacht. Was die Gemeinde Jesu Christi ausmacht – manchmal im Glauben, manchmal im Hoffen, immer als Kinder.

Amen.

Anmerkungen

[1] 1Joh 4,8.16

[2] Vgl. 1Joh 2,7

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