Ganz ehrlich? In meinem Alltag kann ich oft wenig mit dem Begriff „Sünde“ anfangen. Neben der harmlosen Verwendung in unserer Umgangssprache (z.B. die „Verkehrssünderkartei“ in Flensburg, eine modische Sünde, „Ich habe gesündigt“ – durch den Verzehr von Schokolade…) begegnet mir der Begriff nur selten als unersetzlicher Teil unserer Lebensdeutung. Vielmehr spüre ich Unbehagen. Menschen, die dem christlichen Glauben fern stehen, fragen sich bei dem Begriff, ob Christen ihnen da nicht wieder irgendein Problem verkaufen wollen, für das sie dann gleich die Lösung parat haben. Aber auch viele ChristInnen verspüren eine gewisse Unsicherheit. Was genau ist denn jetzt eigentlich Sünde? Habe ich sie? Mache ich sie? Ist sie da? Ist sie weg? Und was hat das mit Schokolade zu tun?
Thorsten Dietz, Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor, verspricht in seinem Buch „Sünde“ (hier auf Amazon.de erhältlich), das im September 2016 im SCM-Verlag erschienen ist, Antworten auf die Frage zu geben, was Menschen heute von Gott trennt.
Sein Anliegen ist es, den Begriff der Sünde, der in der Christentums- und Kirchengeschichte unterschiedliche, sich ergänzende, überholte oder abstruse Bedeutungen gewonnen hat, inhaltlich neu zu füllen. Er behauptet: „Christen, die ihre Sprache, ihre Umgangsformen, ihre Denkschablonen nicht immer wieder in Frage stellen, neu ausrichten und verändern, leben nicht mit einem lebendigen Gott.“ (27) So begründet er also theologisch, warum es sich lohnt, Formen und Sprachbilder immer wieder zu hinterfragen und neu zu denken. Nicht etwa, weil es ein irgendwie gearteter „Zeitgeist“ so will, sondern weil es zum Wesen des christlichen Glaubens gehört, dass er seine Aktualität auch in unserer Denk- und Sprachwelt erlangt.
Die Neuformulierung des Begriffs „Sünde“ nimmt er konsequent aus dem „Licht ihrer Überwindung“ (47) in den Blick. Das Reden von Sünde darf also niemals losgelöst von Gottes Handeln in Jesus Christus zur Erlösung von der Sünde geschehen. Das soll heißen: Es ist nicht die Aufgabe der Kirche mit dem Begriff der Sünde, Menschen Vorwürfe zu machen, ein schlechtes gewissen einzureden oder Macht auszuüben. Im Gegenteil. Das Reden von Sünde erhält nur dann ihren Sinn, wenn es unsere Wirklichkeit beschreibt und neue, befreiende, horizonterweiternde Perspektiven des Glaubens ermöglicht. Oder mit Dietz ausgedrückt: „Wie oft wir von der Sünde reden ist zweitrangig, wenn der Begriff unverständlich bleibt, wenn dieses Wort keine erhellende Kraft in unserer Lebenserfahrung gewinnt.“ (11)
Das Besondere an seiner Vorgehensweise ist der Bezug zu modernen Filmen und Serien. Er legt ausführlich dar, wie man aus Herr der Ringe, Matrix, Star Wars, Tribute von Panem und auch Breaking Bad etwas über die Bedeutung von Sünde in ihren unterschiedlichen Facetten lernen kann. Gegenüber Breaking Bad etwa – eine Serie, in der der erfolglose Chemielehrer Walter White zum erfolgreichen Chrytal-Meth-Produzenten wird – müsse man als Theologe „vorbehaltlos anerkennen, dass hier die ganze Verstrickung, um die es im Sündenkonzept des christlichen Glaubens geht, anschaulich wird.“ (146)
Dietz sucht neue Begriffe, um inhaltlich deutlich zu machen, worum es bei Sünde geht. Er findet hier tendenziell individuelle Begriffe wie Blindheit, Verhärtung, Sucht, bezieht Sünde aber auch auf gesellschaftliche Probleme wie Gier, Machtstreben, strukturelle Ungerechtigkeit.
Er nimmt sich viel Zeit für Zusammenfassungen und Interpretationen der Filme. Die Zeit lohnt sich aber. Ohne je einen Star-Wars-Film gesehen zu haben (ja, Schande über mich), weiß ich nun sehr genau, wie dort mit dem Kampf zwischen Gut und Böse, der Verstrickung in lebensfeindliche und lebensförderliche Mächte gespielt wird und wie dies letztlich auf mein Leben übertragbar ist. Sünde kann heißen, dass ich gegenüber dem guten verhärtet bin, dass ich mich von dem eigentlichen entfremde.
Mich hat das Buch „Sünde“ dazu aufgefordert, es fort zu schreiben. Und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen frage ich mich: Was sind die großen Geschichten, in denen ich mich oder unsere Gesellschaft wieder finde? Wo finden wir das, was wir mit Worten des christlichen Glauben auszudrücken versuchen, veranschaulicht. So dachte ich sofort an den Spielfilm „Gran Torino“ (2008) von und mit Clint Eastwood, der sehr spitzfindig die unverschuldete Verstrickung in Ungerechtigkeit und ihre Erlösung (durch den Tod des Protagonisten) veranschaulicht.
Zum anderen lädt es mich dazu ein, selbst Worte für Inhalte zu finden, die vielleicht für einen selbst, aber nicht für andere verständlich sind. So bietet sich meines Erachtens z. B. auch der Begriff des Scheitern an, um auszudrücken, was mit Sünde gemeint ist. Scheitern in Beziehungen, in Lebensentwürfen, am eigenen Anspruch. Wir können am Beispiel des Verlorenen Sohnes (Lukas 15, 11–32) entdecken, dass Scheitern erlaubt ist, dass ein zurück möglich ist, dass Gott uns gerade in diesem Scheitern sprichwörtlich seine Arme ausbreitet.
Dietz gelingt es, in sehr einfacher Sprache und trotzdem mit viel Tiefgang die Rede der Sünde und deren Überwindung als Lebensdeutung fruchtbar zu machen. Er bezieht sich dabei auf Erkenntnisse großer TheologInnen, ohne dass man sich in einer Theologie-Vorlesung wieder findet. (Er setzt sich konstruktiv mit der Erbsündenlehre Augustinus’ auseinander, plädiert für eine Rehabilitierung der Theologie von Dorothee Sölle, greift immer wieder auf Dietrich Bonhoeffer und sein Sündenverständnis zurück, setzt sich mit Kierkegaards Verständnis der Angst auseinander und betont die christologische Fokussierung von Karl Barth)
Die Lektüre von „Sünde“ vermeidet jede Engführung der Sünde auf moralisches Fehlverhalten. Es verdeutlicht, dass die Rede von Sünde eine umfassende Beschreibung dessen liefert, was uns als Menschen ausmacht, was uns widerfährt, wem und was wir ausgesetzt sind und schließlich auch, wie wir handeln.
Und am Ende? Es gibt nichts schlimmeres als Spoiler. Daher nur kurz und ohne zu viel Vorweg zu nehmen: Das Ende von „Sünde“ hat irgendwie mit Jesus Christus zu tun.
Danke für diese Rezension, Tom! Der Begriff „Sünde“ ist für mich schon länger problematisch und ich habe nun große Lust, mal in das Buch von Thorsten Dietz hineinzuschauen – und wenn es darin auch noch Analogien zu Filmen und Serien gibt, umso besser! 😉