Wie der Vater, so der … Äh, Moment mal! Über die wunderbare Erzählung vom Vater Jesu

Die folgende Predigt ist der (nachträglich erweiterte) zweite Teil einer zweiteiligen Reihe über Matthäus 1,18–25 in der FeG Fischbacherberg. Zweimal derselbe Text, zwei ganz unterschiedliche Perspektiven und Predigtstile. Dieser zweite Teil nimmt nach der nachdenkenden, theologischen Form des ersten Teils eine erzählende Perspektive ein und fragt nach den möglichen Umständen, die sich dem Vater des Kindes gestellt haben könnten: Joseph.

Einstieg

Eine kurze Vorrede: „So sah Jesus Christus wirklich aus“[i]. So titelte vor Weihnachten FOCUS online und brühte damit eine alte Meldung aus dem Jahr 2001 wieder auf. Die üblichen Abbildungen seien falsch, wie ein forensisches Phantombild aus England nun beweise. Manche meinten sogar, so würde ein Selfie von Jesus aussehen … spektakuläre Geschichte, möchte man meinen. Trifft nur überhaupt nicht das, was es mit diesem Bild eigentlich auf sich hat. Denn es ist „nur“ die Rekonstruktion eines mehr oder weniger typischen Israeliten aus dem ersten Jahrhundert – natürlich nicht das Bild von Jesus aus Nazareth. Aber das eignet sich kaum für eine reißerische Weihnachtsmeldung, die die Sensationslust der Leser*innen bedienen könnte.

Ich stelle immer wieder fest, dass manche Christ*innen mit der Bibel ähnlich verfahren. Die „reißerischen“ Teile der biblischen Tradition drängen derart in den Vordergrund, dass man die Geschichte dahinter völlig außer Acht lässt. Es zählt dann nur das Außergewöhnliche, das Übernatürliche – oder wie immer man es nennen will. Bis man anfängt sich ernsthaft zu wundern, warum diese Dinge so wenig mit meinem alltäglichen Leben zu tun haben … ist das vielleicht eine Art fromme Sensationslust?

Unser heutiger Bibeltext ist ein ganz heißer Kandidat für solch eine fromme Sensation. Aber ich persönlich bin davon überzeugt, dass es hinter der vermeintlichen Sensation noch eine Geschichte gibt, die es sich anzuschauen lohnt. In diese Geschichte möchte ich euch heute Morgen mit hineinnehmen. Das mag für den einen oder die andere etwas herausfordernd sein, weil wir es in unserer Gemeindetradition nicht gewohnt sind, die alten Texte einmal ganz neu zu lesen – aber das ist wichtig, wie sollen sie sonst lebendig werden? Wir wissen oftmals schon alles, glauben wir … aber es hilft, sich immer mal wieder an den alten Philosophen Sokrates zu erinnern. Denn der sah seine Weisheit vor allem darin, zu wissen, dass er eben keine endgültigen und unantastbaren Antworten hat. Das tut mir persönlich immer wieder gut, und ich glaube, das täte auch mancher Freien evangelischen Gemeinden hier und da sehr gut.

Wagen wir heute Morgen den Sprung hinter die altbekannten „Wahrheiten“ in die Geschichte, aus denen sie sich entwickelt haben. Dazu will ich sie euch aus einer ganz bestimmten Perspektive heraus nacherzählen. Ich möchte mit euch ganz in die Situation des Textes eintauchen, genauer gesagt: in die Situation Josephs. Unter dem Motto: Wie der Vater, so der … äh, Moment mal! — Da war doch was …

 

Predigttext: Matthäus 1,18–25

18 Mit dem Ursprung von Jesus Christus verhielt es sich aber folgendermaßen: Als seine Mutter Maria mit Joseph verlobt war – noch bevor sie ‚zusammengezogen’ waren – zeigte sich, dass sie schwanger war durch heiligen Geist. 19 Weil aber ihr Mann Joseph rechtschaffen war und sie nicht öffentlich bloßstellen wollte, entschloss er sich, sie heimlich zu entlassen.

20 Nachdem er darüber nachgedacht hatte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: „Joseph, Nachkomme Davids, fürchte dich nicht, deine Frau Maria zu dir zu nehmen, denn das in ihr Geschaffene ist von heiligem Geist. 21 Sie wird einen Sohn zur Welt bringen, und du sollst ihm den Namen ‚Jesus’ geben, denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten.“

22 Dies alles geschah, damit in Erfüllung geht, was vom Herrn durch den Propheten gesagt wurde, nämlich: 23 „Siehe, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn zur Welt bringen, und man wird ihm den Namen ‚Immanuel’ geben.“ – das heißt übersetzt ‚Gott ist mit uns’.

24 Als Joseph vom Schlaf aufwachte, tat er das, was ihm der Engel der Herrn befohlen hatte und nahm zu sich seine Frau, 25 aber er schlief nicht mit ihr, bis sie einen Sohn zur Welt brachte – und er gab ihm den Namen ‚Jesus’.

 

(Haare verwuscheln, Sakko weg, „Verwandlung“ in Joseph)

Hallo. Ich bin Joseph aus Nazareth und etwas durcheinander – deshalb musste ich mir für heute Morgen auch ein paar Notizen machen. Ich werde nämlich bald sowas wie Vater, gewissermaßen. Da soll nochmal einer sagen, Vater werden sei nicht schwer – dem erzähl’ ich was! Alles fing damit an, dass meine Verlobte Maria eines Tages zu mir kam …

 

„Was meinst du mit ‚schwanger’?“ (V. 18)

Folien II.007… hab’ ich sie gefragt, als sie mir die „frohe Botschaft“ überbrachte. Also, da musste ich ja wohl auch nachfragen, denn ich konnte mich an nichts erinnern, was dazu hätte führen können. Wenn sie also unter ‚schwanger’ das gleiche verstand wie ich, blieben theoretisch nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat sie mich bewusst und absichtlich hintergangen – aber kann man das ernsthaft einer Dreizehnjährigen vorwerfen? Oder aber, so ein widerliches Soldatenschwein von den Römern hat sich über sie her gemacht! Das arme Ding, wenn es denn so war. Keine Ahnung. Nach ihrer Version gefragt habe ich natürlich schon, aber sie wollte nicht wirklich etwas dazu sagen. Irgendwie auch verständlich, mit der ganzen Situation muss man als so junger Mensch auch erst mal klar kommen; fast noch ein Kind …

Eins war aber sicher: Ich war’s nicht – darauf mein Wort! Wie üblich gab es keinen, äh, körperlichen Kontakt zwischen uns – den gibt’s erst wenn wir zusammen wohnen – da bin ich konservativ.

Vielleicht sagt sie mir ja doch irgendwann die Wahrheit – ich kann jetzt viel spekulieren, aber letztlich weiß es wohl wirklich nur sie selbst. Sie konnte ich nicht weiter fragen, also musste ich mich fragen:

 

„Was mach’ ich nur mit ihr?“ (V. 19)

Folien II.008Ich denke, ihr könnt meine Verwirrung verstehen. Da stand ich also. Das Mädel schwanger, von wem auch immer. Nur nicht von mir. Das Problem ist, dass wir verlobt sind. Da, wo ich herkomme, sind wir damit rein rechtlich gesehen eigentlich schon verheiratet, wir wohnen nur noch nicht zusammen. Wir teilen zwar noch nicht Bett und Tisch, wie man so schön sagt, so ohne weiteres komme ich aber aus der Nummer nicht raus, und Maria sowieso nicht.

Maria. Das arme Ding. Mir blieb eigentlich nur eine Möglichkeit: Trennung. Sie wegschicken. Jetzt bin ich aber nun Mal keiner von der kaltherzigen Sorte, der die Dame einfach in den Wind schießt. Ich könnte. Ich bin ein Mann, da wo ich herkomme darf ich eigentlich fast alles! Zumindest entscheide ich allein, was passiert. Aber — ich bin auch ein frommer Mann. Und so ganz passt es nicht zu meiner Vorstellung von Gott (und dem, was Gott sich wohl vom Leben vorstellt), dieses junge Mädchen einfach sich selbst zu überlassen, oder besser gesagt: einem öffentlichen Gericht zu überlassen. Denn darauf würde es ja hinauslaufen. Den besten Beweis für den Ehebruch trug sie ja im Bauch. Die Sache war juristisch ziemlich klar.

Ich habe viel überlegt. Letztlich stand für mich am Ende der Entschluss, sie heimlich wegzuschicken. Wobei ‚heimlich’ relativ ist, immerhin hätten zwei Zeugen unsere Scheidung bestätigen müssen. Und mal davon ganz abgesehen: Irgendwann käme das Kind ja trotzdem zur Welt. Spätestens dann würde man wohl mit dem Finger auf uns zeigen und rufen: „Maria? Die war doch mit diesem Joseph verlobt! Was ist denn da schief gelaufen?“ — „Joseph? Sag’ doch mal! Die hat dich doch ganz schön hintergangen – lässt du dir das gefallen?“ Immerhin würde sie nicht mehr gesteinigt, wie es früher mal beim sogenannten Ehebruch der Fall war. Aber viel besser macht’s das auch nicht.

Also, irgendwie mit möglichst wenig Aufsehen die Sache bereinigen. Uns beiden einen Neuanfang ermöglichen, vielleicht woanders. Keine Ahnung.

 

„Denk’ nach, Joseph, denk’ nach!“ (V. 20f)

Folien II.009… dachte ich. Ich hab mir wirklich den Kopf zermartert. Alle Optionen durchgespielt, eine saubere Trennung war für mich die denkbar beste von allen. Was hätte ich denn bitte auch sonst tun sollen? Die Situation war dermaßen zerfahren und ausweglos, dass eigentlich jede Variante die Falsche gewesen wäre. In jedem Fall hätte sich irgendwer, irgendwo und irgendwann irgendwie schuldig gemacht. An der Frau, am Kind, an den Familien, die mit dran hängen. So ist das Leben manchmal, zerfahren und verstrickt, und egal was man macht, irgendwer wird immer verletzt. Das macht es nicht besser, aber vielleicht war ein gesundes Stück Resignation in der Lage ja gar nicht sooo verkehrt.

 

Doch wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt irgendwo ein Lichtlein her. Oder was auch immer das war. Es kam sprichwörtlich über Nacht, wie im Traum, vielleicht war es sogar ein Traum. Ich weiß es nicht so genau. Wie sagt unsere Bibel es in den Psalmen schon so schön: Den seinen gibt’s der Herr im Schlaf (Ps 127,2).

(Aufgeregt) Jedenfalls war mir plötzlich völlig klar, dass es noch eine weitere Option gibt: eine Ad-Option. Natürlich! Adoption! Ich kann auch zu Maria stehen und das Kind zu meinem Kind erklären! Meine Güte, das arme Kind soll „das“ doch nicht ausbaden müssen (was immer „das“ auch war). Und auch Maria nicht, egal was auch vorgefallen sein mag. Auf einmal war mir bewusst, dass es meine Aufgabe war, für die beiden zu sorgen. Was sollte sonst aus Maria werden, die ja fast noch ein Kind ist und jetzt selbst ein Kind bekommt. Ein uneheliches dazu.

Die zwei sollen die Suppe nicht alleine auslöffeln müssen! Immerhin ist es ein Geschenk Gottes in Marias Bauch, wie schließlich jedes Kind. Es ist doch nur da, weil Gottes Geist überhaupt das Leben schafft! Das ist mehr, als jeder Mann zu leisten im Stande ist. Das ist ein Wunder, ein Kind ist doch in jedem Fall ein echtes Wunder!

So in etwa waren (und sind) meine Gedanken. Ich meine, irgendwie sind es ja schon meine Gedanken. Aber irgendwie auch nicht. So ganz von selbst bin ich da nicht drauf gekommen. Wie gesagt, ich hatte ja alles durchüberlegt. Doch manchmal fehlt es eben an der entscheidenden Einsicht. Da braucht es dann ein letztes engelsgleiches Puzzlestück, um das Bild zu erkennen. Und da war es: Bei Maria bleiben, das Kind adoptieren und für beide sorgen. Wo der Bub’ dann herkommt, ist doch egal.

Mir war auch gleich der Name klar: Jeschua. Als Kurzform von Jehoschua, umgangssprachlich (also: griechisch) wird man ihn dann wohl Jesus nennen. Warum, das ist eindeutig, oder? Jahwe ist Rettung. Gott ist Hilfe. Das bedeutet der Name.

Ja, ehrlich gesagt, natürlich hat mich dieses uneheliche Kind erstmal in eine tiefe Krise gestürzt. Irgendwas musste ich unternehmen. Aber auf die Lösung bin ich ganz von allein nun mal nicht gekommen. Es lag nun auch nicht wirklich auf der Hand, geschweige denn in meiner Hand. Es wäre nichts außergewöhnliches gewesen, sich anders zu verhalten. Aber dieser Gedanke, die Frau und das Kind anzunehmen – obwohl mich nichts dazu genötigt hätte! – der hatte etwas Außergewöhnliches an sich. Ich will sogar meinen und glauben: etwas Göttliches. Das ist mein Gott, der hilft, der die manchmal ungewöhnlichen Optionen eröffnet, damit jemand sich um seine kleinsten Menschlein kümmert. Das ist ein Gott der Menschenliebe. Ein Gott, der gute Beziehungen liebt. Das jedenfalls war meine Rettung. Und nicht nur meine, sondern auch die für Maria und das Kind.

Wer weiß, was sonst … ich mag nicht drüber nachdenken. Wenn ich andere Fälle sehe, ähnliche Situationen, die ganz anders ausgehen. Die armen Frauen. Die armen Kinder. Und dem einen oder anderen Mann wird es dabei vielleicht auch nicht nur gut zumute sein. Ich will mich vor pauschalen Urteilen hüten! Warum zeigt sich Gott da nicht als Rettung, als Hilfe? Das verstehe ich beim frommsten Willen nicht. Es ist zum Heulen. Zum Klagen. Und die Anfragen muss Gott sich gefallen lassen, wenigstens, damit wir damit irgendwo hin können. Irgendwie muss man’s ja verarbeiten. Aber das ist ein anderes Thema.

Wenn ich mit etwas Abstand auf die Situation schaue, dann denke ich: Mein lieber Scholli, …

 

„Gott steh uns bei!“(V. 22f)

Folien II.010Was da wohl noch auf mich zukommt. Keine Ahnung, ob sich das auch normale Väter fragen, aber: Kann ich das Kind überhaupt versorgen? Will ich die Verantwortung dafür übernehmen? Wer ist dieses Kind überhaupt? Was wird das für ein Mensch? Werde ich vielleicht als Vater versagen?

Trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl, dass die ganze Geschichte auf eine ganz geheimnisvolle Weise getragen wird. Bisher noch keine Anzeichen für Panik. Gott ist wohl nicht nur eine spontane Hilfe von außen, die draußen stehen bleibt und kein Gott, der einfach ab und zu mal hier und da korrigiert, sondern – das ist ganz merkwürdig – da ist etwas da. Es fühlt sich fast an, als wäre Gott selbst dabei. Ich hatte eine Zeit lang diesen Satz von Jesaja im Kopf, von einer jungen Frau, die ein Kind namens Immanuel bekommt, Gott ist mit uns. Das passte irgendwie in die Situation. Deshalb habe ich letztlich auch den Gedanken nachgegeben und gesagt:

 

„Ok, so mache ich’s“ (V. 24f)

Folien II.011(Meditativ) Wie das alles bisher gelaufen ist, meine Güte! „Güte“ im wahrsten Sinn, fällt mir auf. Dieses Kind ist schon etwas Besonderes. Es wird schon in eine Situation voller Güte hineingeboren. Das will ich mir gar nicht selbst zuschreiben, denn wie gesagt, da war etwas Größeres im Gange, an dem ich irgendwie teilnehmen durfte. Dieses Kind wird schon in eine Situation voller Gnade und Annahme hineingeboren – ob ihn das wohl irgendwie prägen wird?

(Langsam) Jeschua, Jesus. Ein schöner Name eigentlich. Ich darf nicht vergessen, ihm das irgendwann mal zu erklären. Gott ist Rettung. Ja, jetzt sieht es noch so aus, als würde ich ihn retten. Und seine Mama. Aber irgendwann werde ich ihm erzählen, was ich erlebt habe. Ich werde ihm erzählen, wie er schon vor seiner Geburt meine ganze Sicht auf die Welt verändert hat. Weil ich ihre üblichen Unbarmherzigkeiten für einen Moment ein wenig durchbrechen konnte. Irgendwann werde ich es ihm erzählen. Irgendwann werde ich ihm erzählen, wie er mich gerettet hat.

 

Anmerkungen

[i] http://www.focus.de/wissen/mensch/so-hat-er-wirklich-ausgesehen-forscher-fertigen-forensisches-phantombild-von-jesus-an_id_5153523.html. Dazu im BILDblog: http://www.bildblog.de/75050/alle-jahre-wieder/

Kommentar verfassen