Exegetische Predigtnotizen #3: Lukas 15,1–3.11b–32

Eines der vielleicht bekanntesten Gleichnisse aus dem Neuen Testament steht am 3. Sonntag nach Trinitatis auf dem Predigtplan (Reihe I). Hier ein paar exegetische Notizen, die sich bei der Vorbereitung angesammelt haben.Ferne Lande

 

1        Übersetzung

1 Ἦσαν δὲ αὐτῷ ἐγγίζοντες πάντες οἱ τελῶναι καὶ οἱ ἁμαρτωλοὶ ἀκούειν αὐτοῦ. 2 καὶ διεγόγγυζον οἵ τε Φαρισαῖοι καὶ οἱ γραμματεῖς λέγοντες ὅτι οὗτος ἁμαρτωλοὺς προσδέχεται καὶ συνεσθίει αὐτοῖς. 3 Εἶπεν δὲ πρὸς αὐτοὺς τὴν παραβολὴν ταύτην λέγων· […]

1 Einmal waren alle Zöllner und Sünder bei [Jesus], um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und Schriftgelehrten empörten sich: „Dieser da nimmt die Sünder auf und isst mit ihnen zusammen!“ 3 Da erzählte er ihnen die folgende Geschichte als Beispiel: […]
11b  ἄνθρωπός τις εἶχεν δύο υἱούς. 12 καὶ εἶπεν ὁ νεώτερος αὐτῶν τῷ πατρί· πάτερ, δός μοι τὸ ἐπιβάλλον μέρος τῆς οὐσίας. ὁ δὲ διεῖλεν αὐτοῖς τὸν βίον. 11b Jemand hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngere von ihnen sagte zu [seinem] Vater: „Vater, gib mir den Teil [deines] Vermögens, der mir [im Erbfall] zusteht.“ Da teilte er seinen Besitz unter ihnen auf.
13 καὶ μετ’ οὐ πολλὰς ἡμέρας συναγαγὼν πάντα ὁ νεώτερος υἱὸς ἀπεδήμησεν εἰς χώραν μακρὰν καὶ ἐκεῖ διεσκόρπισεν τὴν οὐσίαν αὐτοῦ ζῶν ἀσώτως. 14 δαπανήσαντος δὲ αὐτοῦ πάντα ἐγένετο λιμὸς ἰσχυρὰ κατὰ τὴν χώραν ἐκείνην, καὶ αὐτὸς ἤρξατο ὑστερεῖσθαι. 15 καὶ πορευθεὶς ἐκολλήθη ἑνὶ τῶν πολιτῶν τῆς χώρας ἐκείνης, καὶ ἔπεμψεν αὐτὸν εἰς τοὺς ἀγροὺς αὐτοῦ βόσκειν χοίρους, 16 καὶ ἐπεθύμει χορτασθῆναι ἐκ τῶν κερατίων ὧν ἤσθιον οἱ χοῖροι, καὶ οὐδεὶς ἐδίδου αὐτῷ. 13 Nach wenigen Tagen, als der jüngere Sohn alles zu Geld gemacht hatte, reiste er in ein fernes Land und verschleuderte sein Vermögen, indem er in Saus und Braus lebte. 14  Als er alles aufgebraucht hatte, brach in jenem Land eine große Hungersnot aus und es ging ihm allmählich schlecht. 15 Er drängte sich einem der Bürger jenes Landes auf und der schickte ihn auf sein Feld um Schweine zu hüten. 16 Es verlangte ihn immer wieder danach, sich mit den Früchten zu sättigen, von denen die Schweine aßen – aber niemand gab ihm [etwas].
17 εἰς ἑαυτὸν δὲ ἐλθὼν ἔφη· πόσοι μίσθιοι τοῦ πατρός μου περισσεύονται ἄρτων, ἐγὼ δὲ λιμῷ ὧδε ἀπόλλυμαι. 18 ἀναστὰς πορεύσομαι πρὸς τὸν πατέρα μου καὶ ἐρῶ αὐτῷ· πάτερ, ἥμαρτον εἰς τὸν οὐρανὸν καὶ ἐνώπιόν σου, 19 οὐκέτι εἰμὶ ἄξιος κληθῆναι υἱός σου· ποίησόν με ὡς ἕνα τῶν μισθίων σου. 20 καὶ ἀναστὰς ἦλθεν πρὸς τὸν πατέρα ἑαυτοῦ. 17 Als er in sich gegangen war, sagte er [sich]: „Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben mehr als genug Brot – aber ich komme hier um vor Hunger! 18 Ich will mich aufmachen, zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: ‚Vater, ich habe dem Himmel Unrecht getan und auch dir gegenüber, 19 ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden – mache mich zu einem von deinen Tagelöhnern!’“ 20 Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.
Ἔτι δὲ αὐτοῦ μακρὰν ἀπέχοντος εἶδεν αὐτὸν ὁ πατὴρ αὐτοῦ καὶ ἐσπλαγχνίσθη καὶ δραμὼν ἐπέπεσεν ἐπὶ τὸν τράχηλον αὐτοῦ καὶ κατεφίλησεν αὐτόν. 21 εἶπεν δὲ ὁ υἱὸς αὐτῷ· πάτερ, ἥμαρτον εἰς τὸν οὐρανὸν καὶ ἐνώπιόν σου, οὐκέτι εἰμὶ ἄξιος κληθῆναι υἱός σου. 22 εἶπεν δὲ ὁ πατὴρ πρὸς τοὺς δούλους αὐτοῦ· ταχὺ ἐξενέγκατε στολὴν τὴν πρώτην καὶ ἐνδύσατε αὐτόν, καὶ δότε δακτύλιον εἰς τὴν χεῖρα αὐτοῦ καὶ ὑποδήματα εἰς τοὺς πόδας, 23 καὶ φέρετε τὸν μόσχον τὸν σιτευτόν, θύσατε, καὶ φαγόντες εὐφρανθῶμεν, 24 ὅτι οὗτος ὁ υἱός μου νεκρὸς ἦν καὶ ἀνέζησεν, ἦν ἀπολωλὼς καὶ εὑρέθη. καὶ ἤρξαντο εὐφραίνεσθαι. Aber als er noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und bekam Mitleid. Als er [zu ihm] gelaufen war, fiel er ihm um den Hals und küsste ihn. 21 Doch der Sohn sagte zu ihm: „Vater, ich habe dem Himmel Unrecht getan und auch dir gegenüber, ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.“ 22 Aber der Vater sagte zu seinen Sklaven: „Holt schnell sein altes Gewand und zieht ihn an, steckt ihm einen Ring an [den Finger] und Schuhe an seine Füße. 23 Holt das gemästete Kalb und schlachtet es – wir wollen essen und feiern. 24 Denn dieser, mein Sohn, war tot und jetzt lebt er wieder! Er war verloren und wurde gefunden!“ Und sie begannen zu feiern.
25 Ἦν δὲ ὁ υἱὸς αὐτοῦ ὁ πρεσβύτερος ἐν ἀγρῷ· καὶ ὡς ἐρχόμενος ἤγγισεν τῇ οἰκίᾳ, ἤκουσεν συμφωνίας καὶ χορῶν, 26 καὶ προσκαλεσάμενος ἕνα τῶν παίδων ἐπυνθάνετο τί ἂν εἴη ταῦτα. 27 ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ ὅτι ὁ ἀδελφός σου ἥκει, καὶ ἔθυσεν ὁ πατήρ σου τὸν μόσχον τὸν σιτευτόν, ὅτι ὑγιαίνοντα αὐτὸν ἀπέλαβεν. 28 ὠργίσθη δὲ καὶ οὐκ ἤθελεν εἰσελθεῖν, ὁ δὲ πατὴρ αὐτοῦ ἐξελθὼν παρεκάλει αὐτόν. 29 ὁ δὲ ἀποκριθεὶς εἶπεν τῷ πατρὶ αὐτοῦ· ἰδοὺ τοσαῦτα ἔτη δουλεύω σοι καὶ οὐδέποτε ἐντολήν σου παρῆλθον, καὶ ἐμοὶ οὐδέποτε ἔδωκας ἔριφον ἵνα μετὰ τῶν φίλων μου εὐφρανθῶ· 30 ὅτε δὲ ὁ υἱός σου οὗτος ὁ καταφαγών σου τὸν βίον μετὰ πορνῶν ἦλθεν, ἔθυσας αὐτῷ τὸν σιτευτὸν μόσχον. 31 ὁ δὲ εἶπεν αὐτῷ· τέκνον, σὺ πάντοτε μετ’ ἐμοῦ εἶ, καὶ πάντα τὰ ἐμὰ σά ἐστιν· 32 εὐφρανθῆναι δὲ καὶ χαρῆναι ἔδει, ὅτι ἀδελφός σου οὗτος νεκρὸς ἦν καὶ ἔζησεν, καὶ ἀπολωλὼς καὶ εὑρέθη.

25 Sein älterer Sohn war aber auf dem Feld. Als er sich auf dem Heimweg dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. 26 Er rief einen von den Dienern und erkundigte sich, was da los wäre. 27 Der sagte zu ihm: „Dein Bruder ist gekommen, da hat dein Vater das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückbekommen hat.“ 28 Da wurde er zornig und wollte nicht hinein gehen, aber sein Vater kam heraus und lud ihn ein. 29 Der aber antwortete seinem Vater: „Schau doch mal: So viele Jahre diene ich dir, habe niemals ein Gebot von dir missachtet und du hast mir niemals einen Bock gegeben, damit ich mit meinen Freunden hätte feiern können! 30 Aber jetzt wo dieser, dein Sohn, gekommen ist, der deinen Besitz mit Prostituierten durchgebracht hat, hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet!“ 31 Aber der [Vater] sagte zu ihm: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. 32 Aber jetzt mussten wir doch feiern und uns freuen, denn dieser, dein Bruder, war tot und jetzt lebt er wieder! Er war verloren und wurde gefunden!

 

2        Kontext

Das bekannte Gleichnis steht im sogenannten Reisebericht des Lukas, der von Jesu Weg nach Jerusalem erzählt und hauptsächlich lukanisches Sondergut (nur in Lk) und Texte aus Q (eine aus den Überschneidungen von Mt und Lk rekonstruierte hypothetische Quelle) enthält. Seit 11,53f steht Jesus unter besonderer Beobachtung. Unmittelbar voraus geht ein Kapitel, das ebenfalls als Tischgemeinschaft komponiert ist. Kapitel 15 ist als zusammenhängende Rede aus drei Gleichnissen gestaltet, die das Motiv vom Verlieren und Wiederfinden verbindet. „Lukas präsentiert Jesus auf der ganzen Reise von Galiläa bis Jerusalem als Lehrer.“[1] Unmittelbar voraus gehen der Perikope zwei weitere Gleichnisse: vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Geldstück. Die drei Gleichnisse sind als Antwort auf den Vorwurf konstruiert, dass Jesus mit den Sünder_innen Gemeinschaft pflege – das war nach rabbinischer Tradition unerhört. Die Beachtung der Adressaten müsste eigentlich davor warnen, das Gleichnis vorschnell „Vom verlorenen Sohn“ zu nennen – es ist für diejenigen erzählt, die sich (zuerst) eher mit dem daheimgebliebene Sohn identifizieren würden. Außerdem wäre dadurch ignoriert, dass alle drei Hauptakteure der Erzählung eine wesentliche Rolle spielen.

3        Gliederung

Der Text lässt sich gut in Szenen gliedern, die eine Bewegung bzw. ein Verharren der Akteure im Bezug auf das Vaterhaus darstellt. Die Motivik von Nähe und Distanz scheinen für die Erzählung ein gewisses Gewicht zu haben.[2]

1–3         Einleitung
11b–12   I: Zu Hause: Die Hintergrunderzählung
13–20a   II: Der jüngere Sohn in der Fremde
               13–16         Der Absturz
17–20a       Der Rückweg (Monolog)

20b–24   III: Die Heimkehr des jüngeren Sohns (Gespräch mit Vater)
25–32     IV: Der ältere Sohn zu Hause
               25–28a       Der Rückweg des älteren Sohns (Dialog mit Diener)
28b–32       Die Heimkehr des älteren Sohns? (Gespräch mit dem Vater)

Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit die dritte und vierte Szene parallel gestaltet sind. Im Folgenden findet sich eine nicht weiter interpretierte Skizze. Es fällt auf, dass es in einem weitgehend parallelen Aufbau Überhänge in der vierten Szene gibt

 

 

DRITTE SZENE VIERTE SZENE

Entfernung

Aber als er noch weit entfernt war, 25 Sein älterer Sohn war aber auf dem Feld. Als er sich auf dem Heimweg dem Haus näherte,
Wahrnehmung sah ihn sein Vater und bekam Mitleid.

hörte er Musik und Tanz.

Kontaktaufnahme Als er [zu ihm] gelaufen war, fiel er ihm um den Hals und küsste ihn.

26 Er rief einen von den Dienern und erkundigte sich, was da los wäre.

Dialog I

21 Doch der Sohn sagte zu ihm: „Vater, ich habe dem Himmel Unrecht getan und auch dir gegenüber, ich bin es nicht mehr wert, dein Sohn genannt zu werden.“ 27 Der sagte zu ihm: „Dein Bruder ist gekommen, da hat dein Vater das gemästete Kalb geschlachtet, weil er ihn gesund zurückbekommen hat.“
Reaktion

Da wurde er zornig und wollte nicht hinein gehen, aber sein Vater kam heraus und lud ihn ein.

Dialog II
(Antwort)

22 Aber der Vater sagte zu seinen Sklaven:a: „Holt schnell sein altes Gewand und zieht ihn an,b: steckt ihm einen Ring an [den Finger] undc: Schuhe an seine Füße. 29 Der aber antwortete seinem Vater:a‘: „Schau doch mal: So viele Jahre diene ich dir,b‘: habe niemals ein Gebot von dir missachtet undc‘: du hast mir niemals einen Bock gegeben, damit ich mit meinen Freunden hätte feiern können!
Über den Besitz I

30 Aber jetzt wo dieser, dein Sohn, gekommen ist, der deinen Besitz mit Huren durchgebracht hat,

Das Mastkalb

23 Holt das gemästete Kalb und schlachtet es – wir wollen essen und feiern.

hast du ihm das gemästete Kalb geschlachtet!“

Über den Besitz II

31 Aber der [Vater] sagte zu ihm: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein.

Begründung 24 Denn dieser, mein Sohn, war tot und jetzt lebt er wieder! Er war verloren und wurde gefunden!“ Und sie begannen zu feiern.

32 Aber jetzt mussten wir doch feiern und uns freuen, denn dieser, dein Bruder, war tot und jetzt lebt er wieder! Er war verloren und wurde gefunden!“

 

4        Einzelauslegung

4.1      Einleitung (V1–3)

Lukas komponiert die Situation unter anderem durch die Akteur_innen. Die Wendung Zöllner und Sünder bezeichnet „alle, die ihren Mitmenschen Unrecht tun und von Gott getrennt sind.“[3] Sie kommen, um ihn zu hören. Hier klingt der Schlusssatz der vorherigen Szene an, Lk 14,35: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Die übertreibende Erwähnung, dass πάντες (pántes, alle) Zöllner und Sünder anwesend sind, verweist auf den symbolischen oder exemplarischen Charakter der Wendung. Die zweite Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten sind die „Verteidiger der religiösen Tradition, die sie durch ihre Interpretation vereinnahmen.“[4] Die Tischgemeinschaft (mit den Sündern) wird zum abschätzigen (οὗτος, ‚dieser da’) Vorwurf der Pharisäer gegen Jesus – denkt man an Lk 14,1 erscheint das fast ironisch. Sie ist aber auch ein greifbarer Hinweis auf den Zusammenhang von Jesu Verhalten und Botschaft: Er predigt nicht nur das Gastmahl (Lk 14,15–24), sondern feiert es auch.[5]

Die Einleitung des Kapitels macht deutlich, dass es um ein Geflecht aus drei Akteuren geht, das in allen drei Gleichnissen des Abschnitts auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Deutlichkeit zum tragen kommt. In unserem Gleichnis handelt es sich um Sünderinnen und Sünder, die religiöse Elite und (ihr jeweiliges Verhältnis zu) Gott.

4.2      Erste Szene: Zu Hause (V11b–12)

Das „Dreipersonenstück“ spielt „in einer rein patriarchalisch geordneten Welt“ [6]. Dass die Akteure Männer sind, ist rein kulturgeschichtlich bedingt, die Funktion des Gleichnisses hängt davon keinesfalls ab. „Der Vater ist … nicht Gott, sondern ein irdischer Vater; doch schimmert in einigen Wendungen durch, daß er in seiner Liebe Abbild Gottes ist.“[7]

Der jüngere Sohn lässt sich vom Vater seinen Teil des Erbes geben (über die Motive erfahren wir nichts[8]), der etwa die Hälfte von dem gewesen sein dürfte, was seinem Bruder zusteht (Dtn 21,15–17). „Das Verlangen ist nicht frech oder dreist; aber für den Vater ist es gewiß schmerzlich.“[9] Der Sohn verliert nach dem Talmud seinen Status als Sohn: „Ein Sohn, der geteilt hat, ist wie irgendeiner von allen anderen Menschen“[10].

Es fällt auf, das zwei verschiedene Begriffe verwendet werden. Der Sohn fragt nach der ὀυσία (ousía, Habe, Vermögen), ein Begriff, der im Neuen Testament nur hier in V12f auftaucht. Der Vater teilt dann aber den βίος (bíos, Leben, Lebenswandel, Lebensunterhalt) unter beiden Söhnen auf. „Der Vater gibt also seinem Sohn die Mittel, die diesem erlauben zu leben.“[11] Es ist unwahrscheinlich, dass auch der Ältere seinen Teil schon bekommen hat, wenn er weiterhin beim Vater lebte, jedenfalls kann er in V22 weiterhin über seinen Besitz frei verfügen.

Es fällt weiterhin auf, wie sehr diese Szene erzählerisch gerafft ist. Die Söhne werden lediglich erwähnt, es gibt keine Diskussion um die Forderung des Jüngeren, keine Bemerkungen über den Umfang des Vermögens. Der Fokus der Geschichte soll also anscheinend nicht auf dieser Szene liegen, d. h. die Schuld des jüngeren Sohns liegt nicht wesentlich hier. Es scheint, als wolle die Erzählung möglichst schnell zum Wesentlichen vordrängen und nur so knapp wie möglich die nötigsten Hintergrundinformationen vermitteln.

4.3      Zweite Szene: Der jüngere Sohn in der Fremde (13–20a)

4.3.1        Der Absturz (13–16)

Der Eindruck bleibt auch zu Beginn der zweiten Szene bestehen, wenn der jüngere Sohn in nur einem einzigen Satz nach kurzer Zeit (μετ’ οὐ πολλὰς ἡμέρας, met’ ou pollàs heméras, nach nicht vielen Tagen) alle seine Sachen zusammensucht (συνάγω, synago, einsammeln, sammeln), in ein fernes Land zieht und dort sein ganzes Vermögen (οὐσία, s. o.) verprasst. Über die Umstände erfahren wir nichts. Eckey meint, sie seien den Hörer_innen durchaus bekannt und assoziativ präsent.[12] Für wahrscheinlicher halte ich, dass dem Erzähler die näheren Umstände nicht wichtig sind.

Der Absturz geht so weit, dass der Sohn sich relativ würdelos einem Fremden aufdrängt, der sicher kein Jude ist, wenn er Schweinezucht betreibt, da Schweine für Juden unreine Tiere sind (Lev 11,7; Dtn 14,8 u. ö.). Die Arbeit mit den Schweinen markiert daher auch einen religiösen Aspekt des Abstiegs. Dass er die Früchte des Johannisbrotbaums (κεράτιον, kerátion, im NT nur hier) essen möchte[13] verdeutlicht seinen Abstieg, da sie – wenn überhaupt für Menschen und nicht nur als Tierfutter – als Armenspeise gelten.[14] Doch selbst das wird ihm verwehrt.

Geht man schon in eine theologische Interpretation des Abschnitts, dann wird man durchaus sagen können, dass dem jüngeren Sohn bis hierher zunächst alles genommen wird – er steht mit völlig leeren Händen da, wenn er auf seinen Vater treffen wird. Das ist im Blick auf jedes werkgerechte Ungleichgewicht des Gleichnisses zu bewahren.

4.3.2      17–20a Der Rückweg (17–20a)

Der folgende Monolog gewährt einen Einblick in die innere Entwicklung des Protagonisten der Szene. Sein Umkehrwille bleibt sehr realistisch: Er will nicht zurück in die alten Umstände und Gegebenheiten als Sohn einer vermutlich wohlhabenden Familie, sondern formuliert ein Minimalziel, das sogleich wohl das für ihn zu erhoffende Maximum darstellt, nämlich Tagelöhner im Haus des Vaters zu sein, um sich wenigstens die Versorgung zu sichern.

Dem Monolog kommt m.E. auch dadurch ein hohes Gewicht zu, dass der erste Teil seines Inhalts in V21b wörtlich wiederholt wird. Auffällig ist, dass der zweite Teil in V19b („… mache mich zu einem von deinen Tagelöhnern!“) fehlt. Der Sohn ist sich seiner Schuld bewusst geworden und formuliert sie mit der Wendung „… ich habe dem Himmel Unrecht getan und auch dir gegenüber …“. Die Frage stellt sich, wie beides aufeinander bezogen ist. Bovon hält m.E. zu Recht fest: „Der Doppelausdruck … meint nicht zwei verschiedene Handlungen: Ein und dasselbe Tun kann einen Menschen verletzen und Gott treffen.“[15] Die Parallelisierung von Handeln gegenüber Menschen und gegenüber Gott findet sich auch in der im Erzählverlauf bereits gestellten Frage nach dem wichtigsten Gebot in Lk 10,25–28 (stärker noch die Parallelstelle Mt 22,34–40). Worin allerdings das Unrecht genau besteht, ist nicht gesagt – entweder lag es für die Hörer_innen auf der Hand oder spielt für den Erzählverlauf und die Pointe keine entscheidende Rolle.

Den Abschluss der zweiten Szene bildet die Wiederaufnahme des Motivs aus V18: Der Sohn macht sich auf und geht, so wie er es sich vorgenommen hatte.

4.4      Dritte Szene: Die Heimkehr des jüngeren Sohns (20b–24)

In der dritten Szene tritt erneut der Vater auf, und das recht fulminant. Schon von weitem sieht er ihn kommen – hat er etwa Ausschau gehalten? Darüber sagt der Text nichts. [16] Zumindest dient die Aussage im Erzählverlauf als Vorbereitung für die folgende Handlung, die ein erstes irritierendes Moment der Geschichte mit sich führt: „Der Vater rennt – ein nicht eben standesgemäßes Verhalten für ein Familienoberhaupt –, er umarmt seinen Sohn und überhäuft ihn mit Küssen (vgl. Gen 33,4).“[17] Das erinnert auch sprachlich (in der LXX, griechische Übersetzung des AT) an das Wiedersehen zwischen Jakob und Esau, „der Kuß ist (wie 2.Sam. 14,33) Zeichen der Vergebung.“[18] Die Erzählung nimmt andeutungsweise schon vorweg, womit im Folgenden zu rechnen ist.

Lukas verwendet hier das von ihm sonst spärlich gebrauchte Verb σπλαγχνίζομαι (splanchnizomai, sich erbarmen, Mitleid empfinden, nur Lk 7,13 und 10,33). Interessanterweise wird nicht explizit gesagt, was dieses Erbarmen auslöst. Vielleicht ist es die äußere Erscheinung, die Reaktion auf die Rückkehr ist jedenfalls (nach der emotionalen) auch eine äußere: Der Sohn bekommt seine altes Gewand („Kleid der Sohnschaft“[19]), einen Ring (vermutlich ein Siegelring) als Symbol der (Voll-) Macht und Schuhe. „Im symbolischen Sprachgebrauch Israels bedeutet das Abschreiten eines Geländes in Schuhen, davon Besitz zu ergreifen.“[20] Weiterhin sind die Schuhe Zeichen des freien Mannes im Gegensatz zum Sklaven. Es läuft also in den ersten Anweisungen des Vaters an seine Diener_innen alles darauf zu, dass der Sohn wieder als Sohn angenommen wird – nicht, wie er es selbst als Höchstes erhofft hätte, im Status eines Tagelöhners. Die Bitte darum spricht er in seiner kurzen Rede gar nicht mehr aus, sein Vater unterbricht ihn und „verwandelt die unausgesprochen gebliebenen Worte in ihr Gegenteil“[21]. Aufschlussreich ist auch, was der Vater nicht sagt: „Kein Wort des Vorwurfs. Nicht: Wo bist du gewesen? Was hast du getan? Was hast du mir angetan? Auch nicht: Ich will prüfen, ob du dich besserst. Nicht: Du sollst dich bewähren – ich will dir die Chance geben. Das alles nicht. Nur Festjubel.“[22] „Nach der ihm zuteil gewordenen überschwenglich (sic!) herzlichen Begrüßung würde er den Vater damit kränken.“[23]

In V23 richten sich die Anweisungen dann auf die aus dem Anlass gebotene Feier. Das gemästete Kalb wurde für besondere Anlässe oder Gäste aufgehoben. Der Anlass ist so besonders, dass der Erzähler ihn dem Vater mit einem literarisch kunstvollen Stilmittel[24] (hier und V32) in den Mund legt. Die Begründung schließt die vorangegangenen Szenen ab und gibt ihnen ihre Deutung: der Kontrast von Verloren- und Gefundensein steht im Zentrum, wie es auch schon in den beiden vorangegangenen Gleichnissen (Lk 15,4–10) der Fall war. Das noch folgende „Und sie begannen zu feiern.“ in V24c kann m.E. als Nachtrag gelesen werden, der lediglich noch einmal unterstreicht, dass die Anweisungen und Vorhaben des Vaters auch Wirklichkeit wurden.[25] Inhaltlich Neues tritt hier nicht hinzu.

Der bisherige Teil des Gleichnisses wäre in sich geschlossen,[26] wenn es nicht schon damit begonnen hätte, dass (irgend-) ein Mensch zwei Söhne hatte. Nach dem Abschluss fragen sich die Hörer_innen also, was es nun mit dem zweiten Sohn auf sich hat. Zudem sind die Adressaten des Gleichnisses der wesentliche Grund (und in gewisser Weise Inhalt) für den zweiten Teil: Diejenigen, die sich über Jesu Tischgemeinschaft mit den (wiedergefundenen) Sünder_innen geärgert hatten.[27]

4.5      Vierte Szene: Der ältere Sohn zu Hause (25–32)

4.5.1      Der Rückweg des älteren Sohns (25–28a)

Der ältere Bruder befindet sich auf dem Feld und kommt nach Hause. Man kann versuchen, das durch die sozialen Umstände zu erklären, insofern der Betrieb des Vaters noch gerade so klein war, dass der Sohn selbst mitarbeiten musste (so Bovon). Das ist wohl sicher auch plausibel, verdeckt aber etwas die erzählerische Funktion der Heimkehr, sie der Heimkehr des jüngeren Bruders gegenüberzustellen. Das zeigt sich an mehreren Einzelszenen. Es wäre erzähltechnisch ebenso plausibel, wenn der ältere Bruder die gesamte Rückkehrszene miterlebt hätte. Es wird aber offenbar ein gewisser Wert darauf gelegt, dass auch er zuerst einmal nach Hause kommen muss. Man könnte fragen, ob sich μακράν (makrán, weit, fern) in V20 und ἐγγίζω (enggizo, sich nähern) hier in V25 antithetisch entsprechen.

Die συμφονία (symfonía, Konzert, Kapelle, Instrument, hier vllt. Musik) und der χορός (chorós, Reigen, Tanz, Schar, Chor) tauchen im NT nur hier auf. Sie könnten der Fernwahrnehmung des Vaters aus V20 entsprechen: So wie dieser aus der Ferne schon seinen jüngeren Sohn sah, kann der Ältere jetzt aus (offenbar kleinerer Entfernung) schon die Feier wahrnehmen.

Der Ältere erkundigt sich nach dem Treiben und erfährt in aller Kürze, was passiert ist. Daraufhin wird er zornig – was wieder eine antithetische Parallele in der dritten Szene hat, wo der Vater Mitleid empfand. Der Zorn hindert ihn daran, hineinzugehen und mitzufeiern.

4.5.2      Die Heimkehr des älteren Sohns? (28b–32)

Die Gegenüberstellung beider „Heimkehrer“ wird dadurch zu einem ersten Abschluss gebracht, dass der Vater auch dem Älteren entgegenkommt, freilich mit dem Unterschied, dass dieser sich schon zu Hause befindet, was unter anderem dadurch zustande kommt, dass ein Gespräch des Älteren mit einem Diener zwischengeschaltet ist. Der Ältere will nicht hineingehen (εἰσ-ελθεῖν, eis-elteín), also kommt der Vater heraus (ἐξ-ελθεῖν, ex-elteín) und lädt ihn ein, hereinzukommen und mitzufeiern.

Aber der antwortet mit einem deutlichen Hinweis auf seine jahrelange Pflichterfüllung dem Vater gegenüber. „Die Beziehung zum Vater ist weniger von der Liebe als vom Pflichtgefühl geprägt“[28]. Das Verb δουλεύω (douleúo, dienen) deutet an, dass er sich selbst eher als einen Diener denn als Sohn versteht. Niemals (οὐδέποτε) hat er ein Gebot übertreten, niemals hat ihn der Vater für seine Arbeit belohnt. Aber Eckey fragt zu Recht: „Was erwartet er da wie ein Fremder Lohn für seine Leistung oder wie ein Sklave ein Zeichen der Anerkennung für vorbildliche Pflichterfüllung?“[29] Nicht einmal einen Bock – viel weniger als das Mastkalb – habe er bekommen.

Er fährt fort und nennt nun seinen Vorwurf – die Wortwahl wird hier entscheidend: „Dieser, dein Sohn“ ist verächtliche Rede, „dieser“ (οὗτος, hoútos) klingt an dieser Stelle distanzierend. Man hört fast den ausgestreckten Finger, der auf „den da“ zeigt. Und das entscheidende ist: er nennt den Jüngeren nicht (mehr) Bruder. Der Vorwurf gegen den Vater lautet: „Mich hast du nie für meinen guten Dienst belohnt, ‚den da’ belohnst du für sein unrechtes Handeln!“ Woher der Ältere von den Prostituierten (πορνῶν, bei Lk nur hier) weiß, bleibt im Text offen. Es mag Spr 29,3 anklingen: „Ein Mann, der Weisheit liebt, erfreut seinen Vater; wer sich aber mit Huren einlässt, richtet den Besitz zugrunde.“ (ELB)

Der Vater reagiert in aller Ruhe, nennt den Älteren liebevoll „Kind“ und erinnert ihn an das, was er seit je her hat: Anwesenheit beim Vater, was bedeutet, das er wohl alles hätte haben können. Auf einer anderen Ebene spielt in der Aussage „was mein ist, ist dein“ auch mit, dass der Jüngere sein Erbe schon bekommen hat und der Rest das rechtmäßige Erbe des Älteren ist. Er verweist auf die Notwendigkeit (ἔδει, édei, es war nötig) zu feiern – kein Vorwurf an den Älteren.[30]

Indem der Vater sich selbst zitiert (V24) bringt er auch die vierte Szene auf die gleiche Pointe, wie die vorherigen: die Freude über die Rückkehr des verlorenen Sohnes. Um sie geht es nicht nur zwischen dem Vater und seinem jüngeren Sohn, sondern auch in bezug auf den Älteren Sohn, sowohl in dessen Beziehung zum Vater als auch zum Bruder. Das Zitat enthält die letzte Spitze des Textes, bevor die Parabel offen endet: Der, den der Ältere nur „dieser, dein Sohn“ (ὁ υἱός σου οὗτος) nennt, ist dessen Bruder (ὁ ἀδελφός σου οὗτος). Das wäre eigentlich auch für ihn, den Bruder, ein Grund zu feiern. Die Reaktion darauf wird den Hörer_innen anheim gestellt …

5        Literatur

Bovon, François, Das Evangelium nach Lukas (Lk 15,1–19,27): Evangelisch –Katholischer Kommentar zum Neuen Testament (EKK) III/3, Neukirchen-Vluyn 2001, 14–21.37–66. (Bei Amazon.de anschauen)

Eckey, Wilfried, Das Lukasevangelium Teilband 2 (11,1–24,53), Neukirchen-Vluyn 22006, 675–679.684–695. (Bei Amazon.de anschauen)

Jeremias, Joachim, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 111998 (11947), 128–132. (Bei Amazon.de anschauen)

Voigt, Gottfried, Die geliebte Welt – Homiletische Auslegung der Predigttexte der Reihe III, Berlin 21986 (11980), 292–298. (Bei Amazon.de anschauen)

[1] Bovon, Lukas, 16.

[2] Anders gliedert Bovon, Lukas, 42f, der den Schwerpunkt auf die Hauptakteure legt und drei Szenen unterscheidet.

[3] Bovon, Lukas, 20.

[4] Bovon, Lukas, 20.

[5] Vgl. Eckey, Lukasevangelium, 679.

[6] Beide Zitate: Eckey, Lukasevangelium, 684.

[7] Jeremias, Gleichnisse, 128.

[8] Woher Eckey, Lukasevangelium, 685 die umfangreichen Informationen darüber hat, lässt sich auf natürliche Weise wohl nicht erklären. Die wilden Spekulationen reißen bei ihm auch in der Folge nicht ab.

[9] Eckey, Lukasevangelium, 685.

[10] Tos. Baba batra II,5, zitiert nach Eckey, Lukasevangelium, 686.

[11] Bovon, Lukas, 45.

[12] Eckey, Lukasevangelium, 686.

[13] Einige Handschriften bezeugen hier eine deftigere Lesart („sich den Bauch vollschlagen“), die ebenso als ursprüngliche Lesart infrage kommen könnte.

[14] Eckey, Lukasevangelium, 688.

[15] Bovon, Lukas, 48.

[16] Eckey, Lukasevangelium, 689 weiß wieder mehr.

[17] Bovon, Lukas, 49.

[18] Jeremias, Gleichnisse, 130.

[19] Bovon, Lukas, 49.

[20] Bovon, Lukas, 50.

[21] Jeremias, Gleichnisse, 130. Einige (auch wichtige) Handschriften enthalten allerdings das „komplette“ Zitat.

[22] Voigt, Die geliebte Welt, 296.

[23] Eckey, Lukasevangelium, 690.

[24] In einem sogenannten synonymen Parallelismus sind zwei Satzteile parallel zueinander angeordnet (in der hebräischen Poesie in der Regel zwei Zeilen) und erklären sich gegenseitig. Hier entsprechen sich „tot“ und „verloren“ sowie „lebt wieder“ und „wurde gefunden“.

[25] Anders Bovon, Lukas, 50.

[26] Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 131.

[27] Vgl. Jeremias, Gleichnisse, 131.

[28] Bovon, Lukas, 51.

[29] Eckey, Lukasevangelium, 694.

[30] Vgl. Bovon, Lukas, 52. Anders Jeremias, Gleichnisse, 130, der ἔδει als irreal liest: „‚Du müßtest jubeln und Dich freuen’, vorwurfsvoll“.

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