Nach ihrer Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ über Entkehrung wollen die Herausgeber Tobias Faix, Martin Hofmann und Tobias Künkler in „Warum wir mündig Glauben dürfen“ nun „Wege zu einem widerstandsfähigen Glaubensleben“ gehen. Die Weg-Metapher ist gleich schon Inhalt des Buches: Mündiger Glaube bedeutet auf dem Weg sein. Oder in den Worten der Hausgeber: „Ein Mensch mit einem mündigen Glauben befindet sich in einer Entwicklung, in der er immer weniger darauf angewiesen ist, sich selbst und anderen etwas vorzumachen.“ (14)
Auf das erste Buch haben sie zahlreiche Rückmeldungen erhalten. Menschen, die ähnliches erlebt haben, wie die beschrieben Personen. Zweifel, Fragen, Probleme in christlichen Gemeinschaften. Die Herausgeber merken: „Wir sind damit noch nicht fertig“ (11). Es geht ihnen um all jene Fragen, die die eigene Existenz als Glaubender berühren und die durch die erschütternden Berichte, Gespräche und Briefe der Betroffenen in einen Tiefen Abgrund der christlichen Gemeindewelt blicken lassen.
Dieser Blick in den Abgrund motiviert sie dazu, ein Buch herauszugeben, das „zum Nachdenken anregen, Impulse setzen, Horizonte aufreißen und Mut machen [soll] neue Wege zu gehen.“ (13)
Dies tun sie in 26 kurzen Aufsätzen von unterschiedlichen Autoren. Der Stil ist durchaus vielfältig: Erst ließt man eine theologische Abhandlung über ein angemessenes Verständnis der Bibel, dann die Erfahrungen einer Gemeindereferentin aus Siegen, die über die Thomasmesse berichtet. Aber: Die Unterschiedlichkeit der Texte ist bewusst gewählt und soll „schon ein erster Schritt in Richtung des Buchthemas“ (14) sein.
In vier Abschnitten, die sich an den Leitmotiven (Moral, Intellekt, Identität und Gottesbeziehung) für Entkehrung aus dem ersten Band orientieren, wollen sie Orientierungshilfen und Wegbegleiter für Christ_innen und Gemeinden geben, um Menschen und sich selbst zu einem mündigen Glauben zu verhelfen.
Im ersten Teil geht es darum, dass Gemeinde(-praxis) offen für eine reflektierte Theologie sein muss, damit in unserer pluralen und multioptionalen Gesellschaft Glaube als relevant und vor allem authentisch erlebt werden kann. Es wird sehr schön deutlich, dass es unverantwortlich ist, sich als Gemeinde keine Gedanken über ein reflektiertes Verständnis der Bibel zu machen und wie dies in den jeweiligen (Glaubens-)Entwicklungsstufen der Menschen vermittelt werden kann. Dass dies von den einzelnen Autor_innen wiederum sehr unterschiedlich verstanden wird, belebt den Dialog, den solche Themen brauchen. Während Arne Bachmann – meines Erachtens zurecht – den christlichen Glauben als „Feier eines Geheimnisses“ mit „Momente[n] der Unbestimmtheit, der Ungewissheit und Offenheit“ (26) versteht, betont Matthias Clausen mit Nachdruck, dass wir den Glauben mit Argumenten verteidigen können müssen, da er jede Anfrage aushalten“ (72) könne.
Der zweite Teil ist vor allem ein Plädoyer für Vielfalt in der Gemeinde. Vielfalt bezieht sich dabei auf Meinungen, Kulturen, Positionen. Das, was in der heutigen Gesellschaft so selbstverständlich ist, nämlich, dass unterschiedliche Positionen nebeneinander stehen können, ist längst nicht in allen christlichen Gemeinden der Fall. Die Herausgeber widmen dem Thema „geistlicher Missbrauch“ einen eigenen Abschnitt, da es nicht selten zu übergriffigem Verhalten kommt, wenn eine Person innerhalb der Gemeinde eben nicht den Denk- und Verhaltensnormen der Gemeinde entspricht.
Welche Kultur des Zusammenlebens in Gemeinden die Herausgeber heute fordern, wird durch ein Zitat des französischen Philosophen Voltaire auf den Punkt gebracht: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst.“ (107) Vielleicht müsste man es für den Kontext des Buches zuspitzen: Ich mag verdammen, was du glaubst, aber ich werde mein Leben dafür geben, dass du es glauben darfst!
Wer in den Bereichen Kindererziehung, Machtmiss- bzw. gebrauch, Leitungskultur und Sexualität und Gemeinde Orientierung sucht, ist im dritten Teil des Buches gut aufgehoben. Dieses Kapitel reagiert auf die Ergebnisse der Studie, wonach Menschen in christlichen Gemeinden nicht selten negative Erfahrungen bezüglich Erziehung, Missbrauch und Sexualität gemacht haben. Ein Plädoyer für eine christliche Erziehung, die aufklärt und zugleich Kinder in Freiheit reifen lässt, ist wohl unerlässlich. Gemeinde als Ort zu verstehen, in dem wir mutig über die Schöpfungsgabe der Sexualität reden können, ebenso. Um so erstaunlicher, dass diese eigentlich für einen nachdenkenden Leser selbstverständlichen Tatsachen von so vielen als Neuland entdeckt wird. Hoffen wir, dass dieses Land eingenommen wird.
Zu guter Letzt geht es um den Glauben. Christlicher Glaube wird als Beziehungsgeschehen gedeutet und nicht als Konstrukt theologischer Lehrsätze. Auch Luthers Glaubensbegriff wird erläutert, der für einen mündigen und selbständigen Glauben in Freiheit plädiert. Außerdem zeigt Rolf Krüger auf, wie Christen sich öffentlichen Verhalten können, wenn Kritik droht.
Alles in allem bieten die Herausgeber eine gelungen Sammlung einzelner, sehr unterschiedlicher Beiträge zu Themen rund um Gemeinde und Glaube. Zwar wollen sie kein Nachschlagewerk herausgegeben haben, jedoch wird es den Leser_innen sehr einfach gemacht, nur das zu lesen, was gerade interessiert. Ob das ein Vor- oder Nachteil des Buches ist, bleibt jedem selbst überlassen.
Das Buch kann Orientierungshilfe bieten. Sein Ziel wird es aber erst erreichen, wenn Christ_innen und Gemeinden sich immer wieder der Herausforderungen stellen, die Themen neu für sich, zu durchdenken. Das Buch regt zum Weitergehen an.
Vielleicht wäre hierfür eine Plattform hilfreich, auf der das öffentlich geschehen kann. Warum nicht Seminare und (virtuelle) Foren einrichten, in denen man sich über die Erfahrungen in den einzelnen Bereichen austauschen kann. Moderiert von den Herausgebern. Denn mündig werden, kann ich nur im Dialog.
(Für diese Rezension wurde uns erfreulicherweise ein Rezensionsexemplar von Tobias Faix zur Verfügung gestellt.)
Eine Rezension über den ersten Band „Warum ich nicht mehr Glaube“ findet ihr hier.
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