Exegetische Predigtnotiz #11: Gal 3,1–5

Der Abschnitt aus dem Galaterbrief befasst sich mit einer Erfahrung, die für freikirchliche und konservativ geprägte Gemeindemenschen nicht allzu fremd sein dürfte: Der immer wieder begegnende Blick weg von der entlastenden Freiheit des Evangeliums in die bedrückende Enge von Eigenleistung und Gesetzlichkeit. Als wäre es verhext.

1        Übersetzung

1
b
c
ἀνόητοι Γαλάται, τίς ὑμᾶς ἐβάσκανεν,
οἷς κατ᾿ ὀφθαλμοὺς      Ἰησοῦς Χριστὸς
προεγράφη                     ἐσταυρωμένος;
Oh unverständige Galater*innen, wer hat euch verhext,
denen vor [ihren] Augen            Jesus Christus
‚durchbuchstabiert’ wurde,        der Gekreuzigte?
2
b
c
d
τοῦτο μόνον θέλω μαθεῖν ἀφ᾿ ὑμῶν·
         ἐξ ἔργων νόμου
              τὸ πνεῦμα ἐλάβετε
ἢ       ἐξ ἀκοῆς πίστεως;
Dies allein will ich von euch erfahren:
ob ihr     aus Werken des Gesetzes
                       den Geist empfangen habt
oder        aus der Botschaft des Glaubens?
3
b
c
οὕτως ἀνόητοί ἐστε,
              ἐναρξάμενοι πνεύματι
νῦν       σαρκὶ ἐπιτελεῖσθε;
Seid ihr so unverständig, [dass ihr,]
nachdem ihr      begonnen habt im Geist
[es] jetzt              im Fleisch vollendet?
4
b
τοσαῦτα ἐπάθετε εἰκῇ;
εἴ γε καὶ εἰκῇ.
Habt ihr so Großes vergeblich erfahren?
Wenn es wirklich vergeblich war …
5
b
c
d
ὁ οὖν     ἐπιχορηγῶν ὑμῖν τὸ πνεῦμα
καὶ         ἐνεργῶν δυνάμεις ἐν ὑμῖν,
        ἐξ ἔργων νόμου
ἢ      ἐξ ἀκοῆς πίστεως;
Der nun, der      euch den Geist gibt
und                      Kräfte unter euch wirkt
[tut er das]         aus Werken des Gesetzes
oder                     aus der Botschaft des Glaubens?

 

2        Beobachtungen

2.1      Zur Sprachgestalt

Schon das (aufbereitete) Textbild zeigt, dass die Perikope sehr stilvoll sprachlich gestaltet wurde. Es finden sich unter anderem Chiasmen (V. 3bc; 5ab) und Parallelismen (V. 5ab) sowie Satz- und Wortwiederholungen (V. 1a.3a; 4a.b; 2bd.5cd), die als leitende Stichworte erscheinen. Häufigstes Substantiv ist πνεῦμα (pneuma, Geist, 3x).

Eine zweiteilige Struktur (V. 1–2; 3–5) ist durch das zweimalige unverständig sowie die Wiederholung von V. 2bd in 5cd markiert. V. 4 erscheint darin ein wenig fremdartig, weil es den parallelen Aufbau der beiden Perikopenteile stört.

Auffällig ist die Häufung (rhetorischer) Fragen. Zu bemerken ist freilich, dass die überlieferten Handschriften keine Satzzeichen enthalten (die Perikope ab Gal 3,2b nach der Papyrushandschrift 46 kann man sich hier anschauen) und daher sprach- und inhaltlich zu entscheiden ist, wo es sich um einen Fragesatz handelt.

2.2      Zum Kontext

Die Perikope eröffnet den zweiten großen und argumentativen Abschnitt des Galaterbriefes. Nachdem Paulus in den Kapiteln 1–2 vor allem seine apostolische Autorität unterstrichen hat, folgt nun die Entfaltung seiner Theologie.

3        Auslegung

Zu Vers 1: Paulus steigt sehr steil ein. Die erneute Anrede schon an sich macht deutlich, dass das Folgende von großer Wichtigkeit ist. Dazu kommt die Form oh unverständige Galater (ἀνόητοι). Das meint nicht ein intellektuelles Defizit sondern mangelnde Einsicht in die Grundfesten des Evangelium. Die Galater*innen haben laut Paulus nicht verstanden (oder vergessen), worum es eigentlich geht. Dabei ist es ihnen doch (von Paulus) selbst „durchbuchstabiert“ worden. Das griechische προγράφω prográfo vorher schreiben, vorzeichnen, vormalen ist in seiner Bedeutung hier nicht ganz eindeutig. Es geht vermutlich eher um die (öffentliche, d.h. gepredigte) Entfaltung der Christusbotschaft als um eine Ausschmückung des Jesuslebens. Durch die Satzstellung erscheinen jeweils Jesus Christus und der Zusatz der Gekreuzigte betont (s. o.) – damit scheint mir zugleich das inhaltliche Kriterium für die weitere Argumentation über den Geist definiert: Jesus Christus, der Gekreuzigte.[1] Paulus’ eigenes Unverständnis über die Entwicklungen in der galatischen Gemeinde bringt er mit dem nur hier im NT auftauchenden Wort βασκαίνω baskaíno be-/verzaubern, be-/verhexen zum Ausdruck: Es erscheint nahezu unerklärlich, dass die Gemeinde sich von dem, was sie im Geist empfangen hat, wieder abwendet. Gedacht ist bei diesem Wort wohl an ein geradezu dämonisches Treiben, eine dem Pneuma (πνεῦμα Geist) entgegenwirkende Macht, die in V. 2 benannt wird.

Zu Vers 2: Doch allein (μόνος mónos) darum geht es letztlich, nämlich um die Frage, in welchem Machtbereich man sich bewegt. Paulus spricht die Gemeinde auf die faktische Erfahrung des Geistes an und fragt rhetorisch nach dessen Herkunft: Gesetz oder Glaube? Mit dem Gesetz ist an die jüdische Tora (Gen–Dtn) gedacht, das Paulus hier dem Glauben in einer bestimmten Weise gegenüberstellt.[2] Für ihn scheint klar, dass der Geist aus der Botschaft des Glaubens kommt. Der Genitiv ist vieldeutig und kann meinen die Botschaft, die a) aus dem Glauben hervorgeht; b) den Glauben zum Inhalt hat; c) den Glauben hervorbringt. Der Sache entsprechend scheint jedes dieser Verständnisse auf seine Weise angemessen.

Zu Vers 3: Erneut werden die Galater*innen als unverständig und auf ihre Geschichte hin angesprochen. Begonnen im Geist ist zunächst nicht ungewöhnlich, da das Pneuma selbst Gemeinde begründet, wo Menschen die Botschaft des Glaubens wirksam hören. Geist ist so Voraussetzung für Gemeinde und demnach auch ihr Beginn (vgl. Apg 2). Entscheidend ist aber, dass Paulus es für Unverstand hält, den eigenen ursprünglichen Grund nun wieder aufgeben zu wollen. Die heilvolle Richtung wäre die vom Fleisch (σάρξ sarx, gemeint ist der weltlich-menschliche Bereich) hin zum Geist (gemeint ist der Bereich des [christlich] Göttlichen) – diese Richtung verdrehen die Galater*innen unheilvoll.

Zu Vers 4: Der Vers 4 ist nicht ganz leicht zu interpretieren. Zunächst spricht Paulus die Gemeinde auf die gemachten Geisterfahrungen an und fragt (!), ob diese vergeblich gewesen seien. Vermutlich kann man an ähnliche Erfahrungen denken, wie sie in 1Kor 11 gedeutet werden. Der zweite Teilsatz deutet möglicherweise die Hoffnung an, dass es vielleicht doch keine vergeblichen Erfahrungen waren, sondern sich die Galater*innen darauf zurückbesinnen. Der Vers macht den ringenden Charakter der ganzen Perikope deutlich: Paulus hantiert nicht einfach mit Vorwürfen, sondern lässt durch die rhetorische Frage einen Spielraum offen, deutet eine mögliche Gefahr an und appelliert so an den theologischen Verstand der galatischen Gemeinde. Mit der Form der Frage traut Paulus seinen Adressat*innen eigene Urteilsfähigkeit zu – trotz der offenkundig bestehenden Probleme und Uneinsichtigkeiten.

Zu Vers 5: Erneut begegnet die Gegenüberstellung der Gesetzeswerke und der Glaubensbotschaft aus V. 2, mit dem Unterschied, dass das Pneuma sprachlich nicht eingeschoben, sondern vorangestellt ist. Inhaltlich läuft die Frage auf das Gleiche hinaus wie in V. 2. Eine Akzentverschiebung ist jedoch, dass anders als zuvor nun das Subjekt (ὁ hó der) benannt bzw. angedeutet wird, das den Geist sendet. Ich halte es für plausibel, hier an den Gekreuzigten Jesus Christus aus V. 1 zu denken. Damit wäre dann eine Rahmung der Perikope gegeben und auch theologisch ist zu sagen, dass mit V. 1 die Christologie (Lehre von Christus) als maßgebliches Kriterium definiert ist, sodass auch die Pneumatologie (Lehre vom Geist) von dort her zu verstehen ist.

4        Literatur

Delling, Gerhard, Art. βασκαὶνω, in: ThWNT I (Studienausg.), Stuttgart/Berlin/Köln 1990, 595f. (Amazon.de)

Mußner, Franz, Der Galaterbrief, HThKNT IX, Leipzig 1974, 188–204.205–211. (Amazon.de)

Eckey, Wilfried, Der Galaterbrief: Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 2010, 183–187. (Nicht empfehlenswert! Amazon.de)

Ebeling, Gerhard, Die Wahrheit des Evangeliums: Eine Lesehilfe zum Galaterbrief, Tübingen 1981, 210–221.

Anmerkungen

[1] So auch Ebeling, 220: „An dem Wort vom Kreuz hat das Verständnis von Geist sein unabdingbares Kriterium.“

[2] Das wird in der Perikope nicht ausgeführt. Sehr aufschlussreich ist der Exkurs „Hat Paulus das Gesetz ‚mißverstanden’?“ bei Mußner, 188–204. Er vertritt die m. E. belastbare These, dass Paulus das Gesetz durchaus richtig versteht, dessen „Problem“ aber aufgrund seines überwiegend negativen Menschenbildes im Menschen selbst sieht: Das Gesetz ist nicht Heil schaffend, weil der Mensch es nicht schafft (es zu halten).

Kommentar verfassen