1 Text
17 | ἁγίασον αὐτοὺς ἐν τῇ ἀληθείᾳ· ὁ λόγος ὁ σὸς ἀλήθειά ἐστιν. |
Mache sie heilig in der Wahrheit: dein Wort ist Wahrheit. |
18 | καθὼς ἐμὲ ἀπέστειλας εἰς τὸν κόσμον, κἀγὼ ἀπέστειλα αὐτοὺς εἰς τὸν κόσμον· |
Wie du mich in die Welt geschickt hast, so habe auch ich sie in die Welt geschickt. |
19 | καὶ ὑπὲρ αὐτῶν °ἐγὼ ἁγιάζω ἐμαυτόν, ἵνα ὦσιν καὶ αὐτοὶ ἡγιασμένοι ἐν ἀληθείᾳ. |
Und für sie mache ich mich selbst heilig, damit auch sie in Wahrheit Geheiligte sind. |
2 Kontext
Der Kontext, in dem die Perikope steht, ist das sog. Hohepriesterliche Gebet (seit Cyrill von Alexandria so bezeichnet aufgrund Jesu Fürbitte für die Jünger*innen[1]) in Joh 17, das deutlich von den vorhergehenden Abschiedsreden abgesetzt ist, jedoch Motive aus Joh 13 aufnimmt und so die gesamte Abschiedsszenerie rahmt. Der Autor des Johannesevangeliums (Joh) lässt seinen Jesus hier in gebetsform zusammenfassen, was den Glauben der Gemeinde ausmacht[2] und nimmt durch die szenische Gestaltung als Gebet die nachösterliche Gemeinde in den Blick (Abwendung von den anwesenden Jüngern in Joh 17,1). Der johanneische (joh) Jesus blickt bereits auf das gesamte Heilsgeschehen inklusive Kreuz und Auferweckung zurück, sofern er „als der schon Erhöhte“[3] redet (Joh 17,11: οὐκέτι εἰμι ἐν τῷ κόσμῳ ich bin nicht mehr in der Welt). Diese Zeitenüberlagerung ist für das Joh und insbesondere dessen zweiten Teil (Joh 13–20/21) charakteristisch.
Die Gliederung von Joh 17 lässt sich anhand der Gebetsanreden in V. 1.9.20 vornehmen.[4] Joh 17,1–8 thematisieren die gegenseitige Verherrlichung von Vater und Sohn sowie den Glauben an diese Einheit. Joh 17,9–19 enthalten im Wesentlichen die Fürbitte um die Bewahrung der Jünger*innen in dem Glauben an das, was die vorherigen Verse grundgelegt haben. Joh 17,20–26 führen den Gedanken weiter hin zur Einheit der Jünger*innen untereinander. Alle drei Teile bauen – so gesehen – logisch aufeinander auf und entfalten, was die Einheit des Sohnes mit dem Vater für die Gemeinde bedeutet.
3 Sprache
Die Perikope Joh 17,17–19 kommt mit relativ wenigen, dafür aber gehaltvollen, auf engem Raum häufig wiederholten Motiven aus: Heiligkeit, Wahrheit, (Sendung in die) Welt. Dazu kommt das Wort (λόγος) als einziges nicht wiederholtes Motiv. Dabei fällt auf, dass V. 17 und 19 einen motivischen Rahmen um V. 18 bilden, was nahe legt, sie in engem Bezug zueinander auszulegen.
4 Motivanalyse
4.1 Heilig
Das Wortfeld heilig „begegnet im NT relativ häufig“[5], im Joh aber eher selten. Es bezeichnet im Allgemeinen den Bereich des Göttlichen und das, was dazugehört.[6] Das Verb ἁγιάζειν (hagiázein heiligen) taucht im Joh außer in der Perikope nur noch in Joh 10,36 auf. Diese Verbindung ist sehr interessant, weil sich hier Motive überschneiden: Joh 10 behandelt ausführlich das Hirtenmotiv und dessen Hingabe für die Schafe als Bild für die Lebenshingabe Jesu. Es folgt auf die sog. Hirtenrede eine Auseinandersetzung im Tempel, die Jesu Legitimation verhandelt (Joh 10,22–42) – in V. 36 nun nennt Jesus sein geheiligt werden durch Gott (ἁγιάζειν) als diese seine göttliche Legitimation. Wenn die Zusammenstellung der Texte nicht zufällig ist, wird man die Heiligung in joh Kontext nicht ohne den Nebensinn der Lebenshingabe lesen können. Das gilt dann ebenso für Joh 17,19, wo es ausdrücklich heißt, dass das Heiligen für die Jünger*innen geschieht (ὑπὲρ αὐτῶν, vgl. Joh 10,11.15: ὑπὲρ τῶν προβάτων für die Schafe). Sie ist nichts, was Jesus nur an sich selbst geschehen lässt, sondern sie hat die Jünger*innen zum „Objekt“, geschieht zu ihren Gunsten. Heiligung und Hingabe bedingen einander; Hingabe ist etwas Heiliges, wie etwas Heiliges sich durch Hingabe auszeichnet. Das erscheint mir für das Verständnis der Perikope zentral.
4.2 Wahrheit
Das wird m. E. durch das zweite Motiv ‚Wahrheit’ verstärkt. Dazu muss man allerdings das spezifische neutestamentliche Verständnis des Begriffs Wahrheit beachten. Unser allgemein und landläufiges Verständnis von Wahrheit richtet sich wohl am ehesten nach der ursprünglich griechischen (antiken philosophischen) Bedeutung, wonach er vor allem meint, dass eine sprachliche Aussage mit der entsprechenden Tatsache übereinstimmt. Es geht um die ‚Wirklichkeit’ der Dinge. Diese Vorstellung ist im Alten Testament nicht bestimmend: „Nach atl. Verständnis ist Wahrheit kein ontologischer, sondern ein Relationsbegriff. Wahrheit besagt nicht ein An-und-für-sich-sein, sondern ein Zuverlässigsein von Dingen, Tatbeständen, Menschen oder JHWH. Wahrheit ist nicht abstrakt, sie geschieht vielmehr kontingent.“[7]
Das Joh nun versucht, beides miteinander zu vermitteln und zu vereinen, und zwar von Jesus Christus her.[8] Das führt dazu, dass sich das Wahre nach joh Denken nicht nur darin zeigt, dass eine Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt, sondern auch darin, dass es als das Wahre wirksam und tätig wird. Das Joh geht davon aus, dass das Wahre in den Worten und Taten Jesu konkret und sichtbar wird – nicht als korrekte Satzwahrheit, sondern als das, was wahres Leben ausmacht – man kann wohl moderner sagen: sinnvolles Leben. Was Sinn hat, hat seine eigene Wahrheit – und in Jesus Christus sieht das Joh sinnvolles Leben in seiner klarsten Form, in göttlicher Form.
4.3 Wort
Wenn schon Goethe mit der Übersetzung des λόγος (logos) haderte[9], lohnt sich ein näherer Blick auf diesen aus Joh 1,1 bekannten Begriff, der auch in Joh 17,17 auftaucht. Was meint das ‚Wort’ hier?[10] Es ist wieder eine joh Eigenheit zu bemerken. ‚Wort’ meint – das zeigt der Prolog Joh 1 sehr deutlich – nicht nur Rede, Zusammensetzung von Buchstaben und dergleichen. Das meint es auch, besonders als Verkündigung Jesu, in der sich ‚Worte Gottes’ ereignen, d. h. in denen die göttliche Wirklichkeit zur Sprache kommt. Darüber hinaus wird im Joh aber besonders Jesus selbst als ‚Wort’ verstanden, insofern nicht nur in seinen Worten, sondern durch sein ganzes Leben Gott zur Sprache kommt. Damit ist der λόγος nah am Verständnis von ‚Wahrheit’ (s. o.) dran – wichtig ist die Doppelbedeutung von Wort und Tat, Aussage und Leben, Rede und Redner – es ist als Gottes Wort selbst Wahrheit (Joh 17,17b). Genauer: Es kann m. E. als ein Sammelbegriff für de Inhalte der Wahrheit verstanden werden. Es ist das, wodurch Wahrheit zu lebendiger Wahrheit wird, zu etwas, das mich angeht.
4.4 (Sendung in die) Welt
Joh 17,18 bringt ein Doppelmotiv ins Spiel: die Sendung in die Welt. Die hier in der Vergangenheit formulierte Sendung der Jünger*innen ist noch gar nicht geschehen, das zeigt erneut die joh Überlagerung der Zeitperspektiven.
Mit dem für dieses Evangelium typischen und häufigen Sendungsmotiv formuliert das Joh „das urchristl. Bekenntnis zu Jesus in schriftstellerischer Freiheit in Selbstaussagen“[11] Jesu, häufig wenn es darum geht, Jesu Legitimation zu unterstreichen. Interessant ist die Parallelisierung der Sendung Jesu mit der Sendung der Jünger. Die Jünger werden dadurch nicht Jesus gleichgestellt, sondern die Konstante dieser Aussage ist die Sendung, also der Inhalt dessen, wozu gesendet wird. Oder anders gesagt: Was bleibt, ist, dass durch die jeweilige Sendung die Liebe Gottes in der Welt geschieht; in der Sendung des Sohnes durch den Vater ebenso wie in der Sendung der Jünger*innen durch den Sohn.
Es ist nicht unerheblich, dass sie in der Welt, oder besser: in die Welt (είς τὸν κόσμον) geschieht. Die Aufgabe der Jünger*innen ist nach dem Johannesevangelium nicht ohne den Bezug zur Welt denkbar. Doch was genau bedeutet das? Die Grundbedeutungen des Wortes κόσμος (kosmos) sind „Ordnung, Arrangement, Schmuck, Welt“[12]. Der griechische Begriff taucht hauptsächlich im Joh Joh und den Johannesbriefen auf (102 von 186 Vorkommen). Er begegnet vor allem in Gegensätzen wie Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Leben und Tod und bezeichnet den negativen Part. „Dieser Dualismus ist jedoch nicht wie in der Gnosis als protologisch verankerte Vorgabe konzipiert, sondern allererst die Folge der Sendung des präexistenten Sohnes in die Welt (vgl. z. B. 15,22.24).“[13] Das bedeutet, dass unsere Welt nach dem Joh nicht per se in dieser Weise geteilt ist, sondern es erst durch die Anwesenheit des Sohnes wird. Mit anderen Worten: Erst die durch Jesus geschehene Offenbarung dessen, was ‚wahres’ Leben ist, offenbart damit, was dem widerspricht. ‚Welt’ zeichnet sich dadurch aus, dass sie Jesus als den Weg des wahren Lebens (Joh 14,6) ablehnt. Allein darin zeigt sich die Opposition der Jünger*innen zur Welt: dass sie in Christus das sinnvolle Leben erkannt haben; und allein das ist Kriterium dafür, was als ‚Welt’ zu gelten hat. Es geht keinesfalls um Abschottung, im Gegenteil: Mitten hinein in das, was sinnvollem Leben im Weg steht. Die Heiligung geschieht in der Welt, durch Hingabe an die Welt.
5 Fazit
Der kurze Abschnitt ist gefüllt mit aufgeladenen Motiven, die sich nach meinem Eindruck nicht einfach in einen logischen Zusammenhang bringen lassen. Vielmehr spielen die Motive miteinander, bilden Überlagerungen, legen sich gegenseitig aus. Die eigentümliche Verwendungsweise der Begriffe durch das Joh erschwert ein eindeutiges Verständnis der Verse. Sie haben allerdings alle ihre Kriterien und ihren Schlüssel zum Verstehen in der Person Jesus als Christus, in seinen Worten, seinen Taten und nicht zuletzt in seinem Schicksal. Die Orientierung an dem, was dieses besondere Leben und Sterben auszeichnet, ist der Gratmesser dafür, ob der Text angemessen ausgelegt und gepredigt wird.[14]
6 Literatur
Coenen, Lothar / Haacker, Klaus, Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament: Ausgabe mit aktualisierten Literaturangaben (Sonderausgabe), 22010. (Auf Amazon.de kaufen) Darin:
- Haacker, Klaus, Sendung/Misison, 1654–1667.
- Klappert, Berthold, Wort/Sprache (λόγος), III.4 Jesus Christus als das Wort, 1945–1948.
- Link, Hans-Georg, Wahrheit, 1834–1844.
- Seebass, Horst / Grünwaldt, Klaus, heilig/rein (ἅγιος), 886–892.
- Wolter, Michael, Welt/Erde (κόσμος), 1891–1898.
Schnelle, Udo, Das Evangelium nach Johannes, Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament (ThHK) 4, 42009 (11998). (Auf Amazon.de kaufen)
Thyen, Hartwig, Das Johannesevangelium, Handbuch zum Neuen Testament (HNT) 6, Tübingen 2005. (Auf Amazon.de kaufen)
Wengst, Klaus, Das Johannesevangelium. 2. Teilband: Kapitel 11–21, Theologischer Kommentar zum Neuen Testament (ThKNT) 4/2, Stuttgart 22007 (12001). (Auf Amazon.de kaufen)
Wilckens, Ulrich, Das Evangelium nach Johannes, Das Neue Testament Deutsch (NTD) 4, Göttingen 22000 (11998). (Auf Amazon.de kaufen)
Anmerkungen
[1] Thyen, 681.
[2] Schnelle, 280.
[3] Thyen, 681.
[4] Mit Thyen, 682.
[5] Seebass/Grünwaldt, 890.
[6] Weiterführende Leseempfehlung: Rudolf Otto, Das Heilige.
[7] Link, 1839.
[8] Link, 1843.
[9] Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
(http://sciencesoft.at/book/book?book=Faust1&lang=de&verse=1224#v1224)
[10] Nur der Vollständigkeit halber: Es meint sicher nicht die Bibel in ihrer vorliegenden Gestalt als Altes und Neues Testament. Schon Joh 1 sollte eigentlich davor bewahren, Gottes Wort und die Bibel vorschnell und undifferenziert zu identifizieren. Nach dem Joh ist das Wort Gottes kein Text, sondern eine Person: Jesus Christus.
[11] Haacker, 1658.
[12] Wolter, 1891.
[13] Wolter, 1897.
[14] Und in gewissen Frömmigkeitsprägungen wird man antithetisch hinzufügen können oder gar müssen: Kriterium der Auslegung sind gerade nicht – wozu ein oberflächliches Verständnis der Motive verführen könnte – Satzwahrheiten, eine gesetzliche Ethik (sog. ‚Heiligung’), blinder Buchstabengehorsam oder ein triumphales Sendungsbewusstsein der Gemeinden.